Bis ich bei dir bin
ringe um Beherrschung. »Willst du mich jetzt zu ihm abschieben oder was?«
»Wie bitte?«
Ich deute auf den Geschirrstapel, der wieder in der Spüle angewachsen ist. »Das Leben ist auch so schon schwer genug, ja? Wenn du mich loswerden könntest …«
»Niemand sagt, dass du zu ihm ziehen sollst.«
»Warum dann überhaupt mit ihm reden?«
Ihr Handtuchturban verrutscht. »Er ist dein Vater, Cam.«
»Will er jetzt eine Medaille dafür?«
Sie zieht seufzend eine Zigarettenpackung aus der Tasche. »Ich habe meine eigenen Scheidungspapiere aufgesetzt, für mich gibt es Grund genug, ihn nie wiederzusehen. Aber dich verbindet eine gemeinsame DNA mit ihm. Er ist der einzige Vater, den du hast.«
Grunzend stecke ich das Telefon zurück auf die Station.
Mom tastet nach einem Feuerzeug. Ich reiche ihr ein Streichholzbriefchen aus einer Schublade.
Dann öffne ich erneut den Kühlschrank, merke aber, dass ich keinen Hunger mehr habe. Plötzlich muss ich an Owen denken und frage mich, was schlimmer ist, einen miserablen Vater zu haben oder gar keinen. An der Kühlschranktür hängt ein Foto von Viv, das Mom dort angebracht hat – meine eigene Aufnahme bei Sonnenuntergang. Irgendwie macht der Anblick mich immer noch traurig. Als wäre sie wirklich tot, als hätte ich sie nicht wieder.
»Was machst du überhaupt schon zu Hause?«, frage ich. »Es ist doch erst vier?«
»Mein Gerichtstermin für morgen ist auf nächste Woche verschoben worden«, erklärt sie. »Ich dachte, da kann ich mal ein bisschen ausspannen, im Schlafanzug arbeiten und das Wochenende mit meinem Sohn verbringen.«
Ich habe mich wohl verhört. »Äh, ich bin schon verabredet, mit Mike.«
»Ach so.« Sie sieht mich forschend an. »Aber du hast dich schon seit Monaten nicht mehr mit ihm getroffen.«
»Gehört zu meinem Rehabilitationsprogramm. Ich bin den ganzen Freitagabend bei ihm.« Ich widerstehe dem Impuls, ihrem Blick auszuweichen, als ich das sage. Man darf nie den Augenkontakt zu einer Rechtsanwältin unterbrechen, wenn man lügt.
»Mike Liu? Den habe ich ja ewig nicht gesehen. Warum kommt ihr Jungs nicht hierher? Das wäre doch nett, so wie früher!«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, wir machen so Jungssachen, das würde dich nur nerven.« Das ist eine schwache Ausrede, ich brauche etwas Konkretes. »Videospiele, weißt du, Zombies gegen Aliens, und ich habe die Spielkonsole nicht. Er hat das alles bei sich zu Hause, also müssen wir zu ihm gehen.«
Sie zieht die Augenbrauen hoch. Mir rutscht das Herz in die Hose.
»Nun, es macht dir sicher nichts aus, wenn ich vorher seine Mutter anrufe und mit ihr spreche – wie heißt sie noch mal?«
Ich kriege keinen Ton heraus, als sie das Telefon von der Wand nimmt. Meine Hände schwitzen. Nicht weil ich Angst habe, dass Mrs Liu mich auffliegen lässt, das steht sowieso schon fest, sondern weil meine Gedanken schon zur nächsten Ungewissheit springen – wie Viv reagieren wird, wenn sie herausfindet, dass ich nicht kommen kann. Was sie tun wird.
Mom sucht nach der Nummer, und ich helfe ihr nicht. Sie bekommt sie schließlich von der Auskunft – es gibt nur eine Familie Liu in der Stadt – und wählt sie. Ich habe zuerst noch die Hoffnung, dass der Anrufbeantworter anspringt, doch da belebt sich ihr abwartender Ausdruck auch schon, und sie lächelt.
»Mrs Liu? Ach so, Sie sind nicht … oh, Nicole! Du klingst so erwachsen! Du hast dich genau wie deine Mutter angehört. Ist sie da?«
Jetzt weiß ich, von wem ich die unsinnige Rederei geerbt habe.
»Ah, verstehe. Nein, schon gut, hier ist Loretta Pike, Camdens Mom. Sag ihr bitte, sie möchte mich anrufen, sobald sie Zeit hat …«
Eine Pause, ein Blick zu mir.
»Ich richte es ihm aus, Schätzchen.« Sie lacht. »Okay, danke, bye.«
Mein Herz, das vor einer Sekunde kaum noch gepumpt hat, wagt es nun wieder, in eine hoffnungsvollere Gangart zu schalten.
»Mikes kleine Schwester sagt, sie findet dich süß.« Mom zwinkert mir zu.
»Oh, toll.« Ich schiele zum Telefon hin und rechne mir aus, wann das Footballtraining zu Ende sein wird, damit ich Mike vorwarnen kann. »Also, ich habe noch einen Haufen Hausaufgaben zu machen. Du wirst mich wohl ein anderes Mal kontrollieren müssen.«
Sie neigt den Kopf zur Seite und streckt die Arme nach mir aus. »Komm her, du. Ich bin stolz auf dich, weil du so tapfer bist. Geh und triff dich mit deinen Freunden, amüsier dich.«
Auf einmal bekomme ich Gewissensbisse. Es war leichter, als sie sich noch
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