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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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himmelschreiend schlechte Interpretation von Adam Bede ! Jack-als-Adam heiratete die Zwillingsschwester
der Frau, die ihm Hörner aufgesetzt hatte. (George Eliot muß sich im Grab
herumgedreht haben!)
    Und Miss Wurtz war geradezu verliebt in die Passage gegen Ende von
Kapitel 54. Wie immer folgte sie ihrer eigenen Neigung und machte aus der
Stimme von George Eliots auktorialer Erzählerin einen Text, den sie Jack
sprechen ließ. Es half nicht viel, daß er in Heather Booths von Liebe erfüllte
Augen sah, wenn er [261]  die gewichtigen Sätze sprach. »Was gibt es Größeres im
Leben zweier Menschen als das Gefühl, für das ganze Leben miteinander verbunden
zu sein – einander in Zeiten der Mühsal zu stärken, in Zeiten des Kummers zu
stützen, in Zeiten des Schmerzes zu trösten und im Augenblick des letzten
Abschieds in stummer, unaussprechlicher Erinnerung miteinander eins zu sein?«
fragte Jack-als-Adam Heather-als-Dinah, während sie fortfuhr, ganz hinten in
der Kehle kaum hörbare Nuckelgeräusche zu machen, als wäre ihr von seinem Kuß übel
geworden. Es klang, als würde sie sich gleich übergeben.
    »Jack«, sagte Mrs. McQuat, nachdem sie ihn auf der Bühne gesehen
hatte, »du mußt alles… was Miss Wurtz sagt… mit einer Prise… Salz nehmen.«
    »Mit was?«
    »Das ist… eine Redensart und bedeutet… daß man jemanden oder… etwas
nicht allzu ernst… nehmen sollte.«
    »Aha.«
    »Ich würde… nicht sagen, daß es für… zwei Menschen nichts Größeres
gibt… als für das ganze Leben… miteinander verbunden zu sein… Ehrlich gesagt,
kann ich mir nichts… vergleichbar Schreckliches… vorstellen.«
    Jack schloß daraus, daß Mrs. McQuat unglücklich verheiratet war. Und
falls ihr Mann gestorben war (und sie eine jener Witwen war, die sich als Mrs. bezeichneten), dann hatten die Frau in Grau und Mr.
McQuat im Augenblick des letzten Abschieds wohl nicht viele stumme,
unaussprechliche Erinnerungen gehabt.
    Natürlich überhäufte Emma ihn mit Spott, weil er Heather Booth vor
den Augen der älteren Mädchen »mit inniger Freude« küßte. »Hast du’s mit der
Zunge gemacht?« fragte sie ihn. »Es hat ausgesehen wie ein Zungenkuß.«
    »Zungenkuß?«
    »Dazu kommen wir noch, mein Süßer – die Hausaufgaben [262]  türmen sich
nur so auf. Dieses Mathe-Zeug bringt dich noch ganz schön in Rückstand.«
    »In was?«
    »Es hat sich angehört, als würdest du sie ersticken, du Blindgänger.«
    Aber Emma hätte wissen müssen, daß die Booth-Zwillinge seit der
Vorschule diese gräßlichen Deckennuckelgeräusche machten. (Die Ursache dafür
waren wahrscheinlich Emmas Einschlafgeschichten gewesen.)
    »Warte nur… bis Middlemarch drankommt…
Jack«, tröstete ihn die Frau in Grau. »Nicht nur… daß das Buch besser ist… als Adam Bede – es ist Miss Wurtz… auch nicht gelungen… es zu
verkitschen.«
    So verabreichte Mrs. McQuat ihm in der vierten Klasse eine gewisse
Dosis kritischer Distanz. Er bedauerte sehr, daß er in seiner verbleibenden
Schulzeit auf ihre Führung verzichten mußte, doch er hatte tatsächlich Glück,
sie in seinem letzten Jahr in St. Hilda als Lehrerin zu haben.
    Es ist nicht leicht, kritische Distanz zu gewinnen. Caroline Wurtz
gehörte zu jenen Leserinnen, die einen Roman nach destillierbaren Wahrheiten,
moralischen Lehren und markanten Aperçus durchsuchen – die Buchruine, die nach
einer solchen Plünderung zurückblieb, kümmerte sie wenig. Hätte die Frau in
Grau ihm nicht eine Prise Salz geschenkt – wer weiß, wie lange Jack sich in dem
Glauben gewiegt hätte, er habe Jane Eyre, Tess von den
D’Urbervilles, Der scharlachrote Buchstabe, Anna Karenina, Gefühl und Verstand,
Adam Bede und Middlemarch tatsächlich gelesen?
Bis zur vierten Klasse hatte er diese wunderbaren Bücher tatsächlich nicht
gelesen, sondern nur an ihrer zielstrebigen Plünderung durch Miss Wurtz
mitgewirkt.
    Natürlich kannte Jack die Schwarzen Bretter in St. Hilda, auf denen
oft Sätze zum Lob der Frauen standen. Zwischen den üblichen Bekanntmachungen
hing dort auch ein Zettel mit einer [263]  humorlosen Feststellung von Emerson.
(»Der Einfluß guter Frauen ist ein hinreichender Maßstab für die Bewertung
einer Zivilisation.«) Und bevor Jack die Dorothea in Miss Wurtz’ Bearbeitung
von Middlemarch spielte, hatte er einige Zitate von
George Eliot an den Schwarzen Brettern gesehen. Damals hatte Jack natürlich
gedacht, George Eliot wäre ein Mann. Möglicherweise ein Mann, der Männer

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