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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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haßte.
Darauf schien eines der beliebtesten Zitate von Mr. Eliot hinzudeuten – jedenfalls glaubte Jack das. (»Der Geist eines Mannes –
sofern davon überhaupt die Rede sein kann – genießt stets den Vorteil, männlich
zu sein, so wie die kleinste Birke einer höheren Gattung angehört als die
gewaltigste Palme, und selbst seine Dummheit ist von stabilerer Machart.«) Was
bedeutet das? fragte er sich.
    Als Dorothea »mit all ihrem Eifer, die Wahrheiten des Lebens
kennenzulernen« gab Jack (auf Miss Wurtz’ Anweisung) »sehr kindliche Gedanken
über die Ehe« von sich. Kein Wunder – er war ja auch ein Kind.
    »Der Stolz hilft uns«, plapperte Jack-als-Dorothea, »und Stolz ist
nichts Schlechtes, wenn er uns drängt, unseren Schmerz vor anderen zu verbergen
– anstatt anderen Schmerzen zuzufügen.« (Auch dies sagte in dem Roman weder
Dorothea noch sonst irgend jemand.)
    Miss Wurtz’ Einschätzung seines Bühnentalents – nämlich daß seine
»Möglichkeiten« als Schauspieler unbegrenzt seien – kommentierte die Frau in
Grau mit einer kleinen Wahrheit, die sie auf den Seiten von Middlemarch gefunden hatte. »Tatsächlich ist die Welt… voller hoffnungsvoller Analogien
und… hübscher, ungelegter Eier… namens ›Möglichkeiten‹«, flüsterte sie Jack zu.
    »George Eliot?« fragte Jack. »Middlemarch?«
    »Ganz recht«, erwiderte Mrs. McQuat. »In dem Buch steckt mehr… als
dramatische Moralpredigten.«
    Auf Miss Wurtz’ Prophezeiung, er werde eines Tages ein [264]  großer
Schauspieler sein – wenn und nur wenn er sich bei seinen Rollen jene Präzision
zu eigen machte, die Miss Wurtz so energisch verfocht –, antwortete die Frau in
Grau mit einem weiteren Originalsatz aus Middlemarch: »Von allen Arten von Fehlern… sind Prophezeiungen… die entbehrlichsten.«
    »Was?«
    »Was ich… damit sagen will, Jack… ist: Du mußt… in deiner Zukunft… eine aktivere Rolle spielen als… Miss Wurtz.«
    »Aha.«
    »Siehst du denn nicht, was mit der Wurtz los ist, Zuckerbär?« fragte
Emma Oastler.
    »Was ist denn mit ihr los?«
    »Offenbar führt sie ein unerfülltes Leben«, sagte Emma. »Ich hatte
wahrscheinlich unrecht, als ich gesagt habe, sie hätte einen Freund.
Wahrscheinlich hat ihr jemand aus ihrer Familie die schönen Kleider gekauft. Du
glaubst doch wohl nicht, daß sie ein Sexleben hat oder je gehabt hat, oder?«
Nur in seinen Träumen hatte sie eines, hoffte Jack.
Er mußte aber, wenn auch nicht gegenüber Emma, zugeben, daß es verwirrend war,
wieviel er von Miss Wurtz lernte, obwohl sie so offensichtliche Mängel hatte.
    Während Caroline Wurtz in Romanen auf Beutezug ging, suchte Jack an
den Schwarzen Brettern von St. Hilda nach Perlen erhebender Weisheit; im
Gegensatz zu der Bücher durchstreifenden Miss Wurtz stieß er jedoch auf nicht
viel Nützliches. Kahlil Gibran war in jenen Jahren bei den älteren Mädchen sehr
beliebt. Jack brachte eine von Gibrans verblüffenden Empfehlungen zur Frau in
Grau, damit diese sie ihm übersetzte.
     
    Doch lasset Raum zwischen eurem Beieinandersein,
Und lasset Wind und Himmel tanzen zwischen euch.
    »Was heißt das?« fragte Jack Mrs. McQuat.
    [265]  »Kitsch, Blödsinn, Mumpitz«, sagte die Frau in Grau.
    »Was?«
    »Es heißt… überhaupt nichts, Jack.«
    »Aha.« Mrs. McQuat hatte ihm den Zettel aus der Hand genommen. Er
sah, wie sie ihn zerknüllte. »Sollte ich den nicht lieber wieder aufhängen?«
fragte er.
    »Mal sehen… ob Mr. Gibran allein… den Weg zurück zum Schwarzen
Brett… findet«, sagte sie.
    Jack vertraute ihr. Er wagte es, sie Dinge zu fragen, die er sonst
niemanden zu fragen wagte. Es gab immer mehr, was er seine Mutter nicht fragen
wollte; daß sie sich von ihm entfernte, war eine Warnung, nur wußte er nicht,
wovor. Ganz gleich, was der Grund für ihre Zurückhaltung sein mochte – er war die
Wenn-du-alt-genug-bist-Antwort leid.
    Lottie war Lottie. Einst war sie für ihn ungeheuer wichtig gewesen –
am meisten vielleicht damals, als sie durch all die Hafenstädte gereist waren
und sie ihm so sehr gefehlt hatte –, doch jetzt war er älter, und Lottie
drückte ihn nicht mehr an ihre Brust, damit sie spürten, wie ihre Herzen
schlugen. Jetzt war das ein Spiel, das er lieber mit Emma spielte. (Oder, wie
Emma es ausdrückte: »Man merkt einfach, daß der interessanteste Teil von
Lotties Leben vorbei ist.«)
    Und Mrs. Wicksteed wurde alt und älter. Wenn sie ihre Hände, die
immer häufiger den Dienst versagten, an der

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