Bis ich dich finde
nur
geküßt«, versuchte er zu erklären.
»Du hast was ?« fragte Miss Wurtz.
»Auf den Nacken.«
Jack sah Lucindas Augen nach oben rollen – offenbar trat sie gerade
in eine andere Welt. Sie gab ein würgendes Geräusch von sich, als wollte sie
die schon so lange von ihren Vorschuldecken getrennten Booth-Zwillinge trösten.
Selbst der auf die Schule für Schwererziehbare und das Gefängnis zusteuernde
Roland Simpson bekam es sofort mit der Angst und hielt sich (für den [253] Augenblick) an alle Regeln. Und wenn Jimmy Bacon sein Bettlaken getragen
hätte… Nun, man kann es sich ausmalen.
Caroline French sah mit einemmal aus wie ein Mädchen mit hundert Hamstern im Haar. Die Dummköpfe Grant Porter, James
Turner und Gordon French – eigentlich alle Jungen der Klasse, auch Roland
Simpson und Jimmy Bacon – waren angewidert von Jack. Er hatte die offenbar
geistig zurückgebliebene Lucinda Fleming geküßt. (Eine Schande, die noch lange
an ihm haften würde.) Vielleicht fürchtete Maureen Yap, sie werde nie geküßt
werden, denn sie begann zu weinen, allerdings nicht annähernd so auffällig wie
Miss Wurtz.
Hatte Lucinda ihre Zunge verschluckt? Gab sie deshalb diese
würgenden Geräusche von sich? »Sie blutet!« rief Caroline French. Tatsächlich
hatte Lucinda Blut am Mund, doch es war nicht die Zunge, die blutete – sie
hatte sich in die Lippe gebissen.
»Sie frißt sich selbst auf!« schrie Maureen Yap.
»Jack, das alles enttäuscht mich mehr, als ich sagen kann«,
schluchzte Miss Wurtz. Sie war so erregt, daß man hätte meinen können, Jack
habe Lucinda geschwängert. Es war klar, daß ein Aufenthalt in der Kapelle
bevorstand. Das also waren die möglichen Folgen eines Kusses: Urin, Blut, eine
beeindruckende Demonstration von Totenstarre – und dabei hatte er sie nur auf
den Nacken geküßt!
In diesem Augenblick fiel Jimmy Bacon in Ohnmacht. Das Erscheinen
der Frau in Grau war so spektakulär, daß er wohl zuviel Angst hatte, um zu
kacken. Keines der Kinder hatte sie kommen sehen. Unvermittelt kniete Mrs.
McQuat neben Lucinda. Sie hebelte Lucindas Mund auf und befreite damit die
zerbissene Lippe. Dann klemmte sie ihr ein Buch zwischen die Zähne. »Beiß darauf … Lucinda«, sagte die Frau in Grau. »Deiner Lippe
hast du… schon genug… zugemutet.«
Jack erinnerte sich später an das Buch. Leider vermochte sein
Gedächtnis nicht zwischen Wichtigem und Trivialem zu [254] unterscheiden.
Allerdings war Edna Mae Burnhams Klavierschule – Teil 2, das er oft auf Lucindas Tisch hatte liegen sehen, für Jack Burns alles andere
als trivial. Er nahm nämlich an, daß sein Vater es benutzt hatte. Jack war
überzeugt, daß William nach genau diesem Buch unterrichtet hatte – wahrscheinlich
hatte er es einer Schülerin gegeben, damals, als er in St. Hilda zwei Mädchen
verführt hatte. Möglicherweise hatte eines der Mädchen (oder beide!) dieses
Buch in Händen gehalten.
Das alles – angefangen mit dem Kuß – war zuviel für Maureen Yap. Sie
fiel in Ohnmacht, wenn auch nicht so auffällig wie Jimmy. Daß die Frau in Grau
so unvermittelt erschienen war und nun neben Lucinda kniete, hatte in Maureen
vielleicht die Vorstellung geweckt, Mrs. McQuat sei ein Todesengel. Doch die
Frau in Grau wußte selbstverständlich, wie jemand zu behandeln war, der sich in
die Lippe gebissen hatte. (Wenn sie, in welchem Krieg auch immer,
Lazarettschwester gewesen war, hatte sie sicher schon mehr Blut gesehen.)
Miss Wurtz konnte natürlich nicht aufhören zu weinen, und so geschah
das Unvermeidliche. »Wer von euch…«, sagte Mrs. McQuat atemlos, »hat Miss
Wurtz… zum Weinen gebracht?«
»Ich«, sagte Jack. Alle schienen erstaunt, daß er selbst geantwortet
hatte: So etwas tat man einfach nicht. Nur die Frau in Grau wirkte nicht überrascht.
»Es tut mir leid«, fügte er hinzu, doch Mrs. McQuat hatte ihre Aufmerksamkeit
jemand anders zugewandt.
Lucinda Fleming stand, wenn auch schwankend, wieder auf den Beinen.
Blut tropfte von ihrer Lippe, ihre Bluse und Krawatte waren bereits ganz rot.
Und dann war da noch der Urin, den sie aber gar nicht zu bemerken schien. Die
unnatürliche Gelassenheit ihres Lächelns war wiederhergestellt.
»Das muß… genäht werden… Lucinda«, sagte die Frau in Grau. »Bring
sie… zur Schulschwester… Caroline.« Abermals glaubte Miss Wurtz, sie selbst sei
gemeint, doch Caroline French [255] begriff, daß sie die Helferin sein sollte.
»Nicht Sie… meine Liebe«, sagte die Frau
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