Bis ich dich finde
morgendlichen Tasse Tee wärmte,
tauchte sie manchmal versehentlich die Finger ein und bespritzte dabei Jacks
Hemd und Krawatte. Sie hatte gelernt, Krawatten perfekt zu binden, als ihr Mann
Arthritis bekommen hatte. »Jetzt habe ich seine Krankheit, Jack«, sagte Mrs.
Wicksteed. »Ich frage dich: Ist das gerecht?«
Die Frage nach der Gerechtigkeit war eine, auf die Jack auch in
anderen Bereichen gestoßen war. »Daß ich so werden soll wie mein Vater, ist
nicht gerecht«, sagte er ganz aufrichtig zu Mrs. [266] McQuat. (Er befand sich in
einer Phase, in der er bei diesem Thema Emma gegenüber nicht ganz so aufrichtig
war.) »Finden Sie das gerecht?« fragte Jack die Frau
in Grau. Er sah, daß sie wirklich Lazarettschwester gewesen war, ganz gleich,
wieviel oder wie wenig Wahrheit die Geschichte von dem Gasangriff und dem
entfernten Lungenflügel enthielt. »Glauben Sie, daß
ich so werde wie mein Vater, Mrs. McQuat?«
»Laß uns… einen Spaziergang machen…
Jack.«
Er merkte, daß sie in Richtung Kapelle gingen. »Werde ich jetzt
bestraft?« fragte er.
»Nein… ganz und gar nicht! Wir gehen dahin… wo man nachdenken kann.«
Sie setzten sich in eine der vordersten Reihen und sahen in die
richtige Richtung. Daß ein Drittkläßler im Mittelgang kniete und Gott den
Rücken kehrte, störte ein wenig. Obwohl die Frau in Grau selbst den Schüler
irgendwann dort hingebracht haben mußte, wirkte sie bei seinem Anblick
überrascht, ignorierte ihn jedoch bald.
»Wenn du wirst wie… dein Vater… dann gib nicht deinem Vater… die
Schuld.«
»Warum nicht?«
»Abgesehen von Akten höherer Gewalt… bist du nur dann ein Opfer…
wenn du dich entschließt… eines zu sein«, sagte die Frau in Grau. Nach dem
Gesichtsausdruck des verängstigten Drittkläßlers im Mittelgang zu urteilen,
glaubte der Schüler, sie spreche von ihm.
Glücklicherweise stellte Jack Emma nie die Frage, die er in der
Kapelle an Mrs. McQuat richtete: »Ist es ein Akt höherer Gewalt, wenn man die
ganze Zeit an Sex denkt?«
»Du lieber Himmel!« sagte die Frau in Grau und wandte den Blick vom
Altar, um Jack anzusehen. »Meinst du das ernst?«
»Die ganze Zeit«, wiederholte er. »Ich träume auch von nichts
anderem.«
[267] »Jack, hast du mal… mit deiner Mutter… darüber gesprochen?«
fragte Mrs. McQuat.
»Die würde doch nur sagen, daß ich noch nicht alt genug bin, um
darüber zu reden.«
»Aber wie es scheint… bist du alt genug, um dich… in Gedanken… mit
kaum etwas anderem zu beschäftigen.«
»Vielleicht wird es auf einer Jungenschule besser«, sagte Jack. Er
wußte, daß seine Mutter vorhatte, ihn demnächst auf eine Jungenschule zu
schicken. Ein Stück weiter – von St. Hilda bequem zu Fuß zu erreichen – lag das
Upper Canada College. (Die Jungen vom UCC interessierten sich immer für die älteren Mädchen von St. Hilda.) Und es war
nicht überraschend, daß Mrs. Wicksteed am Upper Canada College »jemanden
kannte« und daß Jack von St. Hilda ein – zumindest in schulischer Hinsicht –
gutes Zeugnis bekommen würde. Er war bereits zu einem Gespräch im UCC gewesen. Da er das Grau und Kastanienbraun von St.
Hilda gewöhnt war, fand er, daß die Schulfarben des UCC entschieden zuviel Blau enthielten: Die diagonal gestreiften Krawatten waren
weiß und marineblau. Wenn man in einer der Schulmannschaften war, trug man eine
marineblaue Strickkrawatte mit rechtwinkligem Abschluß. Alice fand es
bedenklich, daß die Sportskanonen so aus der Masse hervorgehoben und belohnt
wurden. Bei dem Gespräch sagte sie unaufgefordert, ihr Sohn habe keinerlei
sportlichen Talente.
»Woher willst du das wissen?« fragte Jack sie. (Er hatte ja nie
Gelegenheit gehabt, es zu versuchen!)
»Glaub mir, Jack, ich weiß es.« Doch er glaubte seiner Mutter immer
weniger.
»Auf welche Jungenschule… wirst du denn gehen?« fragte ihn die Frau
in Grau.
»Auf das Upper Canada College, sagt
meine Mutter.«
»Ich werde mal… mit deiner Mutter sprechen, Jack. Diese UCC -Jungen… werden dich zum Frühstück verspeisen.«
[268] Jack hatte Respekt vor Mrs. McQuats Sicht der Dinge, und diese
Aussichten waren nicht ermutigend. Jack erzählte Emma von seinen Befürchtungen.
» Warum werden die mich zum Frühstück verspeisen? Und
wie?«
»Es fällt einem schwer, sich dich als Sportskanone vorzustellen,
Jack.«
»Und?«
»Also werden sie dich zum Frühstück verspeisen. Na und? Dein Sport,
Zuckerbär, wird das Leben sein.«
»Das
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