Bis ich dich finde
Verfehlungen so prädestiniert zu sein, wie
Emma Oastler es prophezeit hatte.
Er betete und betete. Seine Knie schmerzten, sein Rücken tat weh.
Nach einiger Zeit roch er Kaugummigeruch – diesmal war es Fruchtgeschmack, und
es kam aus der Bank hinter ihm. »Was machst du da, Zuckerbär?«
[258] Jack wagte es nicht, sich umzudrehen. »Beten«, flüsterte er. »Was
hast du denn gedacht?«
»Ich hab gehört, daß du sie geküßt hast, Jack. Sie haben ihre Lippe
mit vier Stichen genäht! Da haben wir ja einen ganz schönen Berg Hausaufgaben
vor uns. Du kannst ein Mädchen doch nicht küssen, als wäre es ein Steak!«
»Sie hat sich selbst gebissen«, erklärte er, doch das nützte gar
nichts.
»Im Rausch der Leidenschaft, hm?« fragte Emma.
»Ich bete«, sagte Jack, ohne sich umzudrehen.
»Gebete werden dir nicht helfen,
Zuckerbär. Hausaufgaben schon.«
So lenkte Emma Oastler ihn von seinen Gebeten ab. Wäre Emma ihm
nicht in die Kapelle gefolgt, dann hätte Jack die Anweisungen der Frau in Grau
wohl bis in die kleinste Einzelheit befolgt. Und wenn seine Gebete um die
Kraft, nicht nachzugeben (und das bedeutete natürlich in erster Linie die
Kraft, seinem Kleinen nicht nachzugeben), erhört worden wären – wer weiß, was
Jack Burns erspart geblieben wäre? Wer weiß, was er anderen erspart hätte?
[259] 12
Nicht irgendeine Rose von Jericho
Noch
Jahre später gehörte Jack zu den gelangweilten Empfängern von Lucinda Flemings
Weihnachtskarten. Er wußte nicht, warum er die Karten bekam. Er hatte sie nie
wieder geküßt. Er hatte keinen Kontakt zu ihr gehalten.
Emma Oastler vertrat die Meinung, daß Jacks Kuß auf Lucindas Nacken
ihr erster und bester gewesen war – und möglicherweise auch ihr letzter.
Angesichts der Menge ihrer Kinder, deren Namen und Alter ebenfalls auf diesen
immer wiederkehrenden Karten vermerkt waren, verwarf Jack diese Theorie jedoch.
Er war fasziniert von Lucindas Fruchtbarkeit und konnte daraus nur schließen,
daß ihr Mann sie durchaus küßte und dabei glücklich war. Höchstwahrscheinlich
hatte der Mann, der Lucinda Fleming den größeren Teil ihres Lebens küssend zur
Seite gestanden hatte, keine mit Urinpfützen und durchgebissenen Lippen
einhergehenden Anfälle ausgelöst.
Jack vermißte weder Lucinda noch die Wut, die sie anscheinend
ausschließlich für ihn reserviert hatte. Er vermißte die Frau in Grau. Mrs. McQuat
hatte ihr Bestes getan, ihm dabei zu helfen, daß er nicht so wurde wie sein
Vater. Es war nicht ihre Schuld, daß Jack nicht inbrünstig genug betete oder
daß er nicht die Kraft besaß, das zu zügeln, was die Frau in Grau als seine
»Begierden« bezeichnet hatte. Jack allein hatte es zu verantworten, daß er Gott
den Rücken gekehrt hatte.
In der vierten Klasse hatte er jede Menge Hausaufgaben. Emma war ihm
eine echte Hilfe. Auch für die anderen Hausaufgaben – seine sexuelle
Unterweisung – war Emma zuständig: Als selbsternannte Initiationshelferin war
sie unermüdlich.
[260] Mrs. McQuat, die in der vierten Klasse Jacks Lehrerin war, blieb
an zwei Tagen pro Woche länger in der Schule, um ihm bei Mathematik zu helfen.
Er konzentrierte sich auf die Aufgaben; bei der Frau in Grau gab es keine
Ablenkung, er mußte nicht gegen die Sehnsucht ankämpfen, ihren Duft zu atmen.
Er träumte nie von Mrs. McQuat in irgendeiner Unterwäsche. Eigentlich hätte Jack sich für die Sympathie, die sie ihm
entgegenbrachte, bedanken sollen – nicht nur für das, was sie in der Kapelle zu
ihm gesagt hatte, sondern auch für die Art, wie sie versuchte, ein Gegengewicht
zu dem Einfluß zu sein, den Caroline Wurtz auf ihn hatte, wenn sie ihn auf der
Bühne losließ. (Oder eben nicht losließ – das war bei Jacks Auftritten unter
der verkrampften Regie von Miss Wurtz weit häufiger der Fall.)
Er war Adam in Miss Wurtz’ klebrig-süßer Adaption von Adam Bede. »Sie küssen einander mit inniger Freude«, stand
in der Regieanweisung. Jack schob die Erinnerung an den Lucinda-Fleming-Kuß
beseite, der ihm keinerlei Freude bereitet hatte, und widmete sich dieser
Aufgabe. Die Wurtz hatte Heather Booth auserkoren, die Dinah zu spielen, und so
war dieser Kuß tatsächlich eine Herausforderung. Nicht nur, daß Heather bei diesem
Kuß ihr irritierendes Deckennuckel-Geräusch machte – ihre Zwillingsschwester
Patsy, die hinter der Bühne stand, gab gleichzeitig dasselbe Schmatzen von
sich.
Miss Wurtz hatte Hetty, die Frau, die Adam betrügt, mit Patsy
besetzt. Es war eine
Weitere Kostenlose Bücher