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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wart, auch wenn das
nicht stimmt.«
    Bei einem Wettkampf gegen eine Schule in Bath, Maine, gewann Jack
seinen ersten Kampf. Er trat gegen einen starken, aber ungeschickten Jungen an,
der offenbar noch nie einen Kopfdurchzug gesehen hatte. Jack machte den Griff
immer enger, wie [385]  Loomis es ihm gezeigt hatte – und dann biß der andere ihn.
Er schlug die Zähne in Jacks Unterarm, daß es blutete. Jack sah das Gesicht des
anderen Jungen und sah darin keine Bosheit und kein Unrechtsbewußtsein, sondern
nur nackte Angst. Vielleicht fürchtete der Junge aus Bath zu verlieren – schmachvoll,
durch einen Schultersieg –, aber wahrscheinlicher war, daß er einfach Angst vor
Schmerzen hatte. Er kämpfte um sein Leben, er kämpfte wie ein gefangenes Tier.
    Jack ließ ihn los. Die Bißwunde war nicht zu übersehen – alle
Mitglieder beider Mannschaften begutachteten sie ernst und feierlich –, und der
Junge aus Bath wurde wegen unsportlichen Verhaltens disqualifiziert, was Jacks
Mannschaft ebenso viele Punkte bescherte wie ein Schultersieg.
    »Tut mir leid«, sagte Jack zu dem Beißer. »Ich war auch schon mal in
deiner Lage.« Der andere sah gedemütigt und untröstlich aus.
    Loomis schüttelte den Kopf. – »Was ist?« fragte Jack ihn.
    »Zu einem Beißer sagt man nicht, daß man schon mal in seiner Lage
war.«
    In Redding waren also Regeln zu lernen, und weil er sie lernte,
fühlte Jack sich dort wohl.
    Mrs. Adkins, die infolge der Bemühungen ihres Mannes, Spenden
für die Schule zu sammeln, praktisch Witwe war, unterrichtete Englisch und
suchte die Schüler aus, die bei den wöchentlichen Aufführungen mitwirken
sollten. Sie war eine schwer depressive Frau in den Fünfzigern mit einem
unglücklichen Gesichtsausdruck und verwaschenem blonden Haar. Ihr goldenes Haar
und ihre rosige Haut wurden grau, und ihre Kleider wirkten eine Nummer zu groß
– als litte sie an einer Krankheit, die sie schrumpfen ließ.
    Den Erfolg bei der Besetzung von Rollen verdankte sie ihrer
Rastlosigkeit, die sie dazu trieb, unangekündigt in allen [386]  möglichen Klassen
zu erscheinen. Mrs. Adkins trat einfach ein und ging zwischen den Schülern
umher, während der Unterricht so konzentriert wie möglich fortgesetzt wurde.
    »Tut einfach so, als wäre ich gar nicht da«, sagte sie zu den
Fünftkläßlern. (Mrs. Adkins nahm an, daß die älteren Schüler bereits gelernt
hatten, sie zu ignorieren.)
    Nach ihrem Erscheinen in der Klasse fand man vielleicht einen Zettel
in seinem Postfach:
     
    Komm in mein
Büro. Mrs. A.
    In der fünften und sechsten Klasse wurde Jack gewöhnlich als
Frau besetzt. Er war der mit Abstand hübscheste Junge in Redding, und Mrs.
Adkins wußte dank der glühenden Empfehlungen von Miss Wurtz und Mr. Ramsey von
seiner gekonnten Darstellung weiblicher Figuren.
    In der siebten und achten Klasse bekam Jack auch häufig männliche
Rollen, und Mrs. Adkins schob keine Zettel mehr in sein Postfach. Er wußte: Die
Berührung seiner Schulter war die Komm-in-mein-Büro-Berührung.
    Ja, Jack schlief mit ihr. Allerdings erst in der achten Klasse – er
war dreizehn und ging auf die Vierzehn zu, und die Entbehrungen eines Lebens in
einer reinen Jungenschule setzten ihm so zu, daß er wehmütig an sein früheres
Leben als mißbrauchtes Kind zurückdachte. Inzwischen hatte Mrs. Adkins ihm mehr
als drei Jahre lang die besten Sprechrollen gegeben, und er war alt genug, um
sich von ihrer Aura ständiger Traurigkeit angezogen zu fühlen.
    »Dafür kriegst du keine Punkte«, sagte sie ihm nach dem ersten Mal.
Doch er ahnte schon, daß die Welt ihn nach seiner Schulzeit in Redding
vielleicht nach einem anderen Punktesystem beurteilen würde. Nach Jack Burns’
Rechnung war Mrs. Adkins ein Strafpunkt für ihn.
    [387]  Der Nezinscot floß durch Redding, und während des größten
Teils des Jahres hätte man schon große (ja geradezu lächerliche) Anstrengungen
unternehmen müssen, um sich darin zu ertränken, doch einige Jahre nachdem Jack
die Schule verlassen hatte, gelang es Mrs. Adkins. Es mußte wohl im Frühling
gewesen sein – soweit es in Maine so etwas wie einen Frühling gab.
    Ein Widerschein von Miss Wurtz’ vergänglicher Schönheit lag auf Mrs.
Adkins, und in ihrer Eigenschaft als Rollenverteilerin besaß sie auch etwas von
Miss Wurtz’ exzentrischem Hang zur Dramatisierung. Die Jungen führten keine
ganzen Stücke oder Romanadaptionen auf; die Proben hätten zuviel Zeit in
Anspruch genommen, die in dieser

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