Bis ich dich finde
weitgehend schweigend verbrachte Fahrt zurück
nach Exeter. Jack machte alles noch schlimmer, indem er Michele sagte, er liebe
sie und habe das mit dem Masturbieren nur aus Respekt für sie vorgeschlagen.
»Ich werde dir sagen, was so verdreht an dir ist, Jack«, begann
Michele, aber dann brach sie in Tränen aus und sagte es ihm doch nicht. Es
blieb ihm nichts anderes übrig, als diesen Satz selbst zu Ende zu denken.
Beinahe zwanzig Jahre lang wünschte sich Jack Burns, er könne dieses eine
Wochenende noch einmal von vorn beginnen.
»Darf ich raten?« sagte Noah Rosen. »Mit dir und Michele hat’s
nicht geklappt, weil ihr nicht aufhören konntet, einander anzusehen.«
Es war ein, zwei Wochen, bevor Jack seinem Freund von Mrs. Stackpole
erzählte, worauf Noah es seiner Schwester erzählte, was wiederum das Ende der
Freundschaft zwischen den beiden Jungen war. Es war ein schmerzlicher Verlust,
der Jack damals härter traf als der Verlust Micheles. Doch Noah würde im Lauf
der Zeit verblassen, Michele dagegen nicht.
Michele tat nichts Ungehöriges. Sie war so alt wie Jack, sie war
siebzehn und ging auf die Achtzehn zu, doch sie verfügte über
Selbstbeherrschung und Takt. Nicht einmal ihren besten Freundinnen vertraute
sie an, daß Jack Burns ein richtig verdrehter [422] Typ war, oder auch nur, daß er
wirklich so verdreht war, wie manche vermuteten. Ja, sie nahm ihn sogar
weiterhin gegen diesen Verdacht in Schutz. Von Herman Castro erfuhr Jack
später, daß Michele immer nur Gutes über ihn gesagt hatte, auch nach ihrer
»Trennung«. Herman sagte: »Also, wenn ich mir euch beide zusammen vorstelle…
Nein, ich kann’s einfach nicht. Ihr müßt euch vorgekommen sein wie zwei Models
in einer Zeitschrift oder so.«
Herman Castro ging nach Harvard und studierte Medizin. Er wurde
Spezialist für Infektionskrankheiten und kehrte zurück nach El Paso, Texas, wo
er hauptsächlich Aidspatienten behandelte. Er heiratete eine sehr attraktive
Frau mexikanischer Herkunft, mit der er viele Kinder hatte. Den Fotos auf
seinen Weihnachtskarten entnahm Jack zu seiner Erleichterung, daß die Kinder
nicht Herman, sondern seiner Frau ähnlich sahen. Er hatte breite, hängende
Schultern und ein gewaltiges Kinn, eine platt gedrückte Nase und Wülste über
den kleinen, dunklen, eng beieinanderstehenden Augen, so daß seine Stirn wie
eine Ofenkartoffel wirkte.
Herman Castro war der Fotograf der Ringermannschaft. Damals traten
die Schwergewichtler fast immer als letzte an, und Herman machte zwischen
seinen Aufwärmübungen Fotos von seinen Mannschaftskameraden. Jack dachte oft,
daß Herman sein Gesicht verbergen wollte – vielleicht war die Kamera sein
Schutzschild.
»Hallo, Amigo«, stand gewöhnlich auf den Weihnachtskarten, »wenn ich
mir dein Liebesleben vorstelle… Nein, ich kann’s einfach nicht.«
Herman hatte keine Ahnung. Im Lauf der Jahre kam Jack zu der
Überzeugung, daß er mit Michele Maher die Liebe seines Lebens verloren hatte.
Es war nur ein kleiner Trost, daß sein Vater in seinem Alter mit ihr ins Bett
gegangen wäre – ohne Rücksicht auf Tripper oder sonst irgendwas.
[423] Und dabei hatte er gar keinen Tripper! Jack ließ sich nach
seiner Rückkehr aus New York in der Krankenstation untersuchen. Der Arzt sagte,
es sei nichts weiter als eine kleine Irritation, hervorgerufen vermutlich durch
die Umstellung seiner Diät nach dem Ende der Wettkampfsaison.
»Dann ist es also kein Tripper?« fragte Jack ungläubig.
»Nein, es ist nichts.«
Immerhin vögelte er seit Monaten eine siebenundsiebzig Kilo schwere
Tellerwäscherin, und zwar bis zu vier- oder fünfmal pro Woche, zweifellos eine
ausreichende Irritation, um Jack beinahe auf einen kniehoch aufgehängten
Picasso pinkeln zu lassen, und sicherlich groß genug, um seinen Chancen bei »la
belle Michele«, wie Noah Rosen sie nannte, ein für allemal ein Ende zu machen.
Michele und Jack hatten nur ein einziges gemeinsames Fach, nämlich
Deutsch im vierten Jahr. Viele der Schüler, die Deutsch gewählt hatten, wollten
Ärzte werden. Deutsch als Fremdsprache war angeblich gut, wenn man Medizin
studieren wollte. Jack hegte nicht diese Hoffnung – Naturwissenschaften waren
nicht seine Stärke. Ihm gefiel die Anordnung der Worte in deutschen Sätzen: Die
Verben lauerten immer am Ende. Was für starke Abgänge! In deutschen Sätzen
passierte alles immer erst am Ende. Es war die ideale Sprache für Schauspieler.
Er mochte Goethe und liebte Rilke, und im vierten
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