Bis ich dich finde
hielt.
Jack hatte mit seiner Mutter eine Reise durch die
nordeuropäischen Hafenstädte unternommen, die ihn geprägt hatte. Die Zeit in
St. Hilda hatte das, was Emma ganz richtig als sein Ältere-Frauen-Ding
bezeichnete, zutage treten lassen; außerdem hatte er sich dort ein paar
grundsätzliche Schauspieltechniken angeeignet und die Sicherheit gewonnen, daß
er – auch in Frauenrollen – überzeugen konnte. In Redding hatte er die
Fähigkeit entwickelt, hart zu arbeiten. Mrs. Adkins’ Traurigkeit hatte ihn
angezogen. Und in Exeter hatte er festgestellt, daß er kein Intellektueller
war, aber immerhin gelernt, Gelesenes zu verarbeiten und sich schriftlich
auszudrücken. (Damals wußte er noch nicht, wie selten und nützlich diese
Fertigkeiten waren, ebensowenig wie er hätte sagen können, worin die
Verletzlichkeit bestand, die Mrs. Stackpole in ihm freigelegt hatte.)
In Hinblick auf dieses Ältere-Frauen-Ding erschienen Jack die
Lehrerinnen in Exeter erotisch unnahbar. Ob er mit dieser Annahme recht hatte
oder nicht – sie waren auf jeden Fall unnahbarer als Mrs. Stackpole, deren
rohe, suggestive Dringlichkeit ihn fasziniert hatte. Redding lag in einer
Wildnis, und die Frauen, die kamen, wurden bald müde oder wirkten jedenfalls
so. In Exeter dagegen gab es einige attraktive Ehefrauen von Lehrern, die die
Phantasien der Jungen befeuerten – doch es blieben eben Phantasien. (Jack wäre
es nicht im Traum eingefallen, sich an eine von ihnen heranzumachen; sie sahen
allesamt zu glücklich aus.)
Am unnahbarsten war Madame Delacorte, eine französische Schönheit,
die in der Bibliothek arbeitete und deren Mann romanische Sprachen
unterrichtete. Romane waren nicht gerade das, woran man beim Anblick von Madame
Delacorte dachte. Es gab in Exeter keinen Jungen, der ihr in die Augen hätte
sehen [427] können – und keinen, der die Bibliothek betrat, ohne sehnsüchtig nach
ihr Ausschau zu halten.
Madame Delacorte sah aus, als hätte sie gerade gevögelt und wolle
mehr, viel mehr. (Dennoch hatte die verschwitzte
Umarmung ihre Frisur irgendwie unbeschädigt gelassen.) Madame Delacorte war
eine so beherrschende Persönlichkeit wie Jeanne Moreau in Jules
und Jim; nicht einmal ihr Mann vermochte sich ihr ohne Stottern zu
nähern, und er stammte immerhin aus Paris.
Eines Abends lernte Jack in der Bibliothek für die Geschichtsprüfung
und saß in seiner liebsten Lesekabine in der ersten Etage. Er hatte alle
Verbindungen zu Noah Rosen und Michele Maher gekappt und sah den kommenden vier
Jahren in Durham, New Hampshire, mit einiger Resignation entgegen.
Emma zog nach Iowa City. Sie hatte einige Geschichten, die sie
geschrieben hatte, an die University of Iowa geschickt und war zum Writer’s
Workshop zugelassen worden. Jack hatte noch nie davon gehört. Er wußte nur, daß
Iowa irgendwo im Mittleren Westen war und daß Emma ihm fehlen würde.
»Du kannst mich doch besuchen, Zuckerbär. Ich bin sicher, daß sie
dort Kinos haben, trotz all der Schriftsteller. Wahrscheinlich haben sie Kinos,
um die Schriftsteller in den Wahnsinn zu treiben.«
Jack machte sich keine Sorgen wegen der Geschichtsprüfung, er war
nur ein bißchen deprimiert. Als Madame Delacorte zu seiner Lesekabine kam,
hatte er gerade ein paar Bücher durchgeackert, die er schon längst gelesen
haben sollte. Die Bücher, mit denen er fertig war, hatte er auf einen Stapel
gelegt, darunter auch einen staubigen Wälzer über römisches Recht, der, wie
Madame Delacorte sagte, von jemand anderem verlangt wurde. Sie wollte, daß er
das Buch wieder an seinen Platz in der zweiten Etage stellte, wo die
griechischen und lateinischen Klassiker standen.
[428] »Na gut«, sagte Jack zu Madame Delacorte. Er konnte den Blick nie
höher heben als bis zu ihrer Taille; ihre Taille genügte, um ihn
durcheinanderzubringen. Er ging mit dem Buch über römisches Recht in die zweite
Etage.
»Aber komm dann gleich wieder zurück, Jack«, rief Madame Delacorte
ihm nach. »Ich möchte dich nicht von deinen Studien ablenken.« Als hätten sie
oder Jack irgendeinen Einfluß darauf.
Die zweite Etage schien so menschenleer wie immer zu sein. Jack fand
den Standort des Buches, doch als er es zurückstellen wollte, sah er ein
Augenpaar, das ihn über die staubigen Bücher hinweg betrachtete. »Michele Maher
ist nichts für dich«, sagte die Stimme, die zu den Augen gehörte. »Du siehst ja
ohnehin gut aus – wozu brauchst du dann noch eine gutaussehende Freundin? Du
brauchst etwas
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