Bis ich dich finde
Jahr Deutsch
gehörte seine ganze Liebe Shakespeare in deutscher Übersetzung, besonders den
Liebessonetten, die, wie sein Deutschlehrer, Herr Richter, behauptete, auf
deutsch besser waren als im Original.
Die brave Michele Maher war anderer Meinung. »Sie wollen doch wohl
nicht sagen, daß ›Mutwillige Armut, reizend noch im Schlimmen‹ besser ist als
›Lascivious grace, in whom all ill well shows‹.«
»Aber du wirst mir sicher recht geben, Michele«, erwiderte der
Lehrer, »daß ›Sonst prüft die kluge Welt der Tränen Sinn /
Und [424] höhnt dich um mich, wenn ich nicht mehr bin ‹
eine erhebliche Verbesserung gegenüber dem Original darstellt. Würdest du es
auf englisch sagen, Jack? Du kannst es so gut.«
»›Lest the wise world should look into your moan ‹«,
rezitierte Jack für Michele, »›And mock you with me after I am gone. ‹«
»Seht ihr?« wandte sich Herr Richter an die Klasse. »Man muß sich
schon ein bißchen anstrengen, damit sich ›gone‹ auf ›moan‹ reimt, wogegen
›Sinn‹ und ›bin‹… Nun, ich glaube, mehr muß ich nicht sagen.«
Jack konnte Michele nicht ansehen, und sie konnte ihn nicht ansehen.
Der Gedanke, daß er sich bei den letzten Worten, die er an sie richtete,
angestrengt hatte, ›gone‹ auf ›moan‹ zu reimen, war einfach zu grausam.
In der letzten Deutschstunde gab Michele Jack einen Zettel. »Lies
ihn später, bitte«, sagte sie nur.
Es war etwas von Goethe. (Michele hielt mehr von Goethe als Jack.)
»Behandelt die Frauen mit Nachsicht.« Jack kannte die Zeile.
Wenn er den Mut aufgebracht hätte, Michele eine Botschaft zukommen
zu lassen, hätte er sich für Rilke entschieden: »Sie lächelte einmal. Es tat
fast weh.« Michele hätte gesagt, es sei zu prosaisch.
Ein wenig Stolz auf seine schulischen Leistungen gewann Jack aus der
Tatsache, daß er ohne Noah Rosens Hilfe vier Jahre Deutsch schaffte. Es war das
einzige Fach, bei dem Noah ihm nicht helfen konnte und wollte. (Als Jude
betrachtete Noah Deutsch verständlicherweise als die Sprache der Mörder seines
Volkes und weigerte sich, auch nur ein Wort davon zu lernen.)
Auch bei den Eingangstests konnte er Jack nicht helfen – hier war
Jack ganz auf sich allein gestellt, hier zählte Leistung mehr als Einstellung.
Trotz aller Anstrengung blieben seine Fähigkeiten hinter denen seiner
Klassenkameraden zurück. In der Abschlußklasse des Jahres 1983 hatte Jack die
wenigsten Punkte.
[425] »Schauspieler kommen mit Multiple-Choice-Verfahren nicht
zurecht«, sagte er zu Herman Castro.
»Warum nicht?«
»Weil Schauspieler nicht raten«, sagte Jack. »Schauspieler treffen
natürlich eine Wahl, aber sie wissen, worin sie besteht. Wenn man die Antwort
nicht weiß, rät man nicht einfach.«
»Nimm’s mir nicht übel, Jack, aber wenn man einen
Multiple-Choice-Test macht, ist das eine ziemlich blöde Einstellung.«
Infolge seiner armseligen Testergebnisse würde Jack nicht nach
Harvard gehen wie Herman Castro und Noah Rosen. Die sogenannten besseren
Colleges und Universitäten blieben ihm verschlossen. Seine Mutter lag ihm in
den Ohren, er solle nach Toronto kommen und dort studieren. Doch er wollte nicht
dorthin zurückkehren.
Obwohl sie es gewesen war, die sich von ihm entfernt hatte, suchte
sie plötzlich wieder seine Nähe, doch er wollte nichts mit ihr zu tun haben.
Für Jack war »dieses Lesbending«, wie Emma es nannte, längst kein Thema mehr,
ebensowenig wie für Emma. Es machte ihnen nichts aus, daß Alice und Leslie
Oastler ein Paar waren; sie waren zufrieden, ja sogar beinahe stolz darauf, daß
ihre Mütter noch zusammen waren. So viele Paare hatten sich getrennt – das
betraf sowohl Emmas und Jacks Freundinnen und Freunde als auch deren Eltern.
Aber Jack konnte nicht vergessen, daß Alice ihn von Toronto– und von
Kanada, seinem Heimatland – weggeschickt hatte. Seit acht Jahren lebte er in
den USA . Seine Mitschüler waren größtenteils
Amerikaner, und die Filme, die ihm den Wunsch eingaben, Filmschauspieler zu
werden, waren europäisch.
Jack bewarb sich um einen Studienplatz an der University of New
Hampshire und wurde zugelassen. Emma war außer sich. »Um Himmels willen,
Zuckerbär – du solltest nicht auf die UNH gehen,
bloß weil dir das Kino dort so gut gefällt!« Doch er hatte seine Wahl
getroffen. Ihm gefielen sowohl Durham als auch das [426] Kino, obgleich es dort,
wie er zugab, ganz anders war, wenn Emma Oastler nicht neben ihm saß und seinen
Penis
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