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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Maureen; er war sich sicher, sie hatte »Habt ihr denn keine
Hausaufgaben?« gesagt.
    Ehe die Angesprochene sich zu einer Antwort aufraffte – und bevor
sie abermals einen Schwäche- oder Ohnmachtsanfall erlitt oder stolperte –, nahm
Jack ihre kalte, feuchte Hand und sagte: »Verschwinden wir von hier. Ich helfe
Ihnen, Ihren fehlenden Schuh zu suchen.«
    »Ja, verschwinden wir von hier«, stimmte eine andere
Internatsschülerin ein. »Gehen wir Ellies Schuh suchen.«
    »Jemand ist mir beim Rausgehen aus der Kapelle auf die Hacke
getreten«, sagte Ellie. »Ich wollte gar nicht wissen, wer es war, deshalb bin
ich einfach weitergegangen.«
    »Ich kann so was nicht leiden«, sagte Jack zu den jungen Frauen.
    »Es ist so rücksichtslos«, sagte eine von ihnen.
    »Es ist zum Kotzen «, sagte er. (Vielleicht
war es das Wort kotzen, das Maureen Yap vertrieb.)
    Auf der Suche nach dem verlorenen Halbschuh ging Jack mit den
Mädchen den Flur entlang zur Kapelle zurück; unterwegs signierte er Exemplare
von Emmas Büchern. »Mit Internatsschülerinnen war ich nicht mehr zusammen, seit
mich ein paar Mädchen ins Wohnheim eingeschmuggelt haben, als ich hier zur
Schule ging«, erzählte er ihnen.
    »Wie alt waren Sie da?« fragte ein Mädchen, das Jack stark an Ginny
Jarvis erinnerte.
    »Schätzungsweise neun oder zehn«, sagte Jack.
    »Und die Mädchen?« fragte Ellie.
    »Die müssen so in eurem Alter gewesen sein«, sagte Jack zu ihr.
    »Das ist ja krank !« sagte Ellie.
    »Es ist doch nichts weiter passiert, oder?« fragte eine der
Internatsschülerinnen Jack.
    [646]  »Nein, natürlich nicht – ich weiß nur noch, daß ich Angst hatte«,
erwiderte er.
    »Na ja, schließlich waren Sie noch klein«, meinte eine. »Klar, daß
Sie da Angst hatten.«
    »Guckt mal, da ist mein doofer Schuh«, sagte Ellie. Der Halbschuh
lag, achtlos an die Seite geschoben, an der Flurwand.
    »Wie wollen Sie Die Schundleserin eigentlich verfilmen?« fragte ihn eine der jungen Frauen.
    »Wo es doch potentiell so krass ist?«
fügte eine andere hinzu.
    »Der Film wird nicht so drastisch wie der Roman«, erklärte Jack.
»Zum Beispiel kommt kein einziges Mal das Wort Penis darin vor.«
    »Und was ist mit Vagina ?« fragte eines der
Mädchen.
    »Das auch nicht«, sagte er.
    »Warum hat sie sich ihre Vagina nicht einfach machen lassen?« fragte Ellie. Natürlich wußte Jack, daß sie von der Romanfigur Michele
Maher sprach, aber seine Gedanken waren ganz bei Emma.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Jack.
    »Da muß es irgendeinen psychologischen Grund gegeben haben, Ellie«,
sagte eine ihre Mitschülerinnen. »Das ist schließlich was anderes als ein
kaputter Meniskus, oder?«
    Die jungen Frauen, auch Ellie, nickten sachlich. Sie waren so
vernünftig – im Herzen noch Kinder, doch in so vieler Hinsicht erwachsener, als
es Emma in diesem Alter gewesen war, ganz zu schweigen von Ginny Jarvis und
Penny Hamilton (oder Charlotte Barford oder Wendy Holton). Jack fragte sich,
was an ihm so anders oder so schräg gewesen war, daß die Mädchen geglaubt
hatten, es wäre nicht weiter verwerflich, ihn zu mißbrauchen.
    Diese Mädchen hier würden einem kleinen Jungen nichts tun. In ihrer
Gesellschaft kam sich Jack wieder vor wie ein Neun- oder Zehnjähriger – nur daß
er sich geborgen fühlte. So geborgen und so sehr wie ein kleiner Junge, daß er
plötzlich [647]  verkündete: »Ich muß mal.« (Genauso hätte es auch ein Neun- oder
Zehnjähriger gesagt.)
    Die jungen Frauen waren nicht weiter überrascht; sie reagierten ganz
sachlich auf seine Ankündigung. »Wissen Sie noch, wo die Jungentoilette ist?«
fragte ihn Ellie.
    »Es gibt noch immer bloß eine«, sagte eine andere.
    »Ich zeige Ihnen den Weg«, sagte Ellie zu Jack und nahm ihn bei der
Hand. (Genauso hätte sie auch einen Neun- oder Zehnjährigen bei der Hand
genommen; aus irgendeinem Grund brach es Jack das Herz.)
    Es war alles seine Schuld gewesen, dachte
er – daß sich die älteren Mädchen während seiner Zeit in St. Hilda auf so
widernatürliche Weise für ihn interessiert hatten. Es mußte irgend etwas
gewesen sein, das sie an ihm entdeckt hatten. Jack war davon überzeugt, daß die
Widernatürlichkeit bei ihm lag.
    Er löste seine Hand aus der von Ellie. Er wollte nicht, daß sie oder
ihre Freundinnen – diese unglaublich gesunden, normalen jungen Frauen – ihn weinen sahen. Er hatte das Gefühl, er sei kurz davor, sich
in Tränen aufzulösen, und das ganz ungehemmt, wie etwa ein Neun-

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