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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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oder
Zehnjähriger weint. Plötzlich schämte er sich seiner Verdrehtheit, wie die echte Michele Maher das vielleicht genannt haben würde.
    »Die Jungentoilette finde ich schon noch allein«, sagte Jack zu
ihnen und lachte ein Schauspielerlachen. »Ich glaube, diese Toilette würde ich
noch aus der Dunkelheit meines Grabes finden«, fügte er hinzu, wodurch es sich
so anhörte, als wäre sein Gang zur Toilette eine Heldenfahrt, die er allein
antreten mußte, und im vollen Bewußtsein aller Gefahren, die unterwegs lauern
mochten.
    Kurz darauf hatte sich Jack in einen ihm unbekannten Flur verirrt;
vielleicht, dachte er, war die alte Schule renoviert worden. In den
Treppenhäusern traf man am ehesten auf Gespenster, glaubte er – Mrs. McQuat,
sein von ihm gegangenes Gewissen; [648]  oder gar Emma, enttäuscht von der Kürze
seines Gebets. Die Stimmen der Internatsschülerinnen begleiteten ihn nicht
mehr. Niemand folgte ihm – jedenfalls glaubte er das.
    Vor ihm, nicht weit von einer Biegung im Korridor, befand sich der
Speisesaal – verschlossen und dunkel. Trat aus dem Schatten dort eine Gestalt,
alt und gebeugt? Es war eine ältere Frau, niemand, den Jack erkannte, mit
Sicherheit aber kein Gespenst; für einen Geist wirkte sie zu kompakt. Vom
Aussehen her eine Putzfrau, dachte er. Aber warum sollte sonntags in St. Hilda
eine Putzfrau arbeiten, und wo waren ihr Mop und ihr Eimer?
    »Jack, mein Liiiebling – mein Kleinärr !« rief Mrs. Machado.
    Daß er sie sah, daß er wußte, sie war es wirklich, hatte auf Jack
den gleichen Effekt wie ihr Tritt in seinen Unterleib vor so vielen Jahren. Er
konnte sich weder rühren noch sprechen – er konnte nicht einmal mehr atmen.
    Er hatte erkannt, daß Leslie Oastler eine gewisse Macht über ihn
besaß und immer besitzen würde. Doch bei all seinen bewußten oder unbewußten
Anstrengungen, seine Erinnerungen an Mrs. Machado zurückzudrängen, hatte Jack
unterschätzt, welch unerbittliche Macht sie über ihn
hatte. Er hatte sie nie besiegt – das hatte nur Emma.
    Ihre Taille – soweit sie je eine gehabt hatte – war verschwunden.
Ihre tief herabhängenden Brüste bauschten das Mittelteil ihrer über den Bund
hängenden Bluse so überdeutlich wie die gestohlenen Waren eines dilettantischen
Ladendiebs. Noch deutlicher aber war, was sie Jack gestohlen hatte. Mrs.
Machado hatte ihn der Fähigkeit beraubt, nein zu ihr (oder zu sonst jemandem!)
zu sagen.
    »Der Kleine hat Angst!« hatte Bonnie Hamilton zu ihrer Schwester und
zu Ginny Jarvis gesagt, als die drei älteren Mädchen versuchten, Jacks Penis
eine Reaktion zu entlocken.
    In Mrs. Machados Gesellschaft war Jack noch immer der Kleine, der
Angst hatte. Im Flur umkreiste sie ihn wie zur [649]  Vorbereitung auf ihren
gewohnten Beinangriff von außen; sie fädelte unter seinem linken Arm ein, die
dicken Finger ihrer linken Hand schlossen sich fest um sein rechtes Handgelenk.
Jack kannte den Wurf, den sie offensichtlich vorhatte, konnte seine Starre aber
nicht überwinden; er machte keine Anstalten, sich zu verteidigen.
    Mrs. Machado preßte die Stirn gegen seine Brust. Ihre Schädeldecke –
von einem grauen, drahtigen Haargewirr überwuchert – berührte ihn an der Kehle.
Es überraschte Jack, wie klein sie war, aber natürlich war er kleiner gewesen,
als sie diesen Tanz zuletzt gemeinsam aufgeführt hatten – während Tschenko wie
einen Gebetsruf die vertraute Litanei wiederholte. »Auf die Hände achten! In
Bewegung bleiben! Lehn dich nicht gegen sie, Jackie!«
    Es war kein Ringkampf, was Mrs. Machado im Sinn hatte. Mit ihrem
hartnäckigen Griff um Jacks rechtes Handgelenk führte sie seine Hand unter ihre
Bluse; mit ihrer breiten Nase schob sie seine Krawatte zur Seite und löste mit
den Zähnen den zweiten Knopf seines Hemdes. Jack meinte, in ihrem Haar den
Geruch von Anchovis wahrzunehmen. Es war die Berührung seiner rechten Hand mit
ihren schlaffen Brüsten, unmittelbar gefolgt vom Gefühl ihrer Zunge auf seiner
Brust, die ihn mit Ekel erfüllte und ihm die Kraft gab, sie wegzustoßen.
    Bis zu diesem Augenblick hatte er nie an sogenannte wiedergewonnene
Erinnerungen geglaubt – daran, daß kindliche Mißbrauchs- und
Vergewaltigungserfahrungen glücklicherweise aus dem Gedächtnis gelöscht werden,
nur um Jahre später mit aller Macht und äußerst lebhaft wiederzukehren. Als
Jack auf dem in sonntäglichem Halbdunkel liegenden Flur seiner alten Schule vor
Mrs. Machado zurückfuhr, erinnerte er sich wieder an den

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