Bis ich dich finde
Entfernung der Lymphknoten – das Standardverfahren«, erklärte
Leslie.
»Ist das bei einer Mammographie entdeckt worden, oder hat sie den
Knoten getastet?« fragte Jack.
» Ich habe ihn getastet«, sagte Mrs.
Oastler. »Er war ziemlich fest, hat sich richtig hart angefühlt.«
»Ist der Krebs wiedergekommen, Leslie?«
»Ein Wiederauftreten in der anderen Brust ist ziemlich häufig«,
sagte Mrs. Oastler, »aber er ist nicht in ihrer Brust wiedergekommen. Er hätte
die Lunge oder die Leber befallen können, aber er ist ins Gehirn gewandert. Es
gibt schlimmere Stellen, wo er sich hätte zeigen können – in den Knochen ist es
schrecklich.«
»Was kann man gegen einen Gehirntumor machen?« fragte er.
»Es ist eigentlich kein Gehirntumor, Jack. Der Brustkrebs hat
Metastasen im Gehirn gebildet – das sind Brustkrebszellen. Wenn Brustkrebs
woanders hinwandert, kann man wohl wenig machen.«
»Mom hat also einen Tumor im Gehirn?« fragte Jack.
»Eine ›ausgedehnte Läsion‹ nennen sie das, glaube ich – aber für
dich und mich ist es ein Tumor, ja«, sagte Leslie [661] achselzuckend. »Jeder
Eingriff wäre sinnlos, heißt es. Sogar eine Chemo würde lediglich lindernd
wirken, Symptome abmildern, aber keine Heilung bringen. Heilung gibt’s keine«,
fügte sie hinzu. Das merkwürdige gibt’s (ebenso wie
das von ihr gebrauchte hat’s und würd’s )
war der bewußte oder unbewußte Versuch einer trauernden Mutter, die
gewohnheitsmäßige, aber bestsellerträchtige sprachliche Schludrigkeit ihrer
verstorbenen Tochter zu beschwören.
Mrs. Oastler griff nach den Fotos und legte sie in eine
Küchenschublade. Dort wurden die Bedienungsanleitungen für die Geräte aufbewahrt,
aber es lag auch jede Menge anderer Kram darin; als Kinder hatten Emma und Jack
dort immer nach Klebeband, Reißnägeln, Büroklammern oder Gummibändern gesucht.
Die Fotos von ihren Brüsten waren Alice’ Idee gewesen; Leslie sollte
sie Jack zeigen, aber erst, wenn sie, Alice, tot war.
»Was sind die Symptome, Leslie?«
»Trotz entsprechender Medikamente hat sie möglicherweise noch
weitere Anfälle. Einen hat sie jedenfalls schon gehabt – ich war dabei. Ich
habe den Knoten getastet, ich habe den Anfall miterlebt. Mir entgeht nicht
viel«, fügte Mrs. Oastler hinzu.
»Ist das so etwas wie ein Krampf oder ein Schlaganfall?« fragte er.
»Vermutlich«, antwortete Leslie, abermals achselzuckend. »Außerdem
habe ich unbestimmte Stimmungsschwankungen bei ihr bemerkt, und das bei ihrer
Persönlichkeit!«
»Leslie, Moms Stimmung schwankt ständig – ihre Persönlichkeit war
schon immer unbestimmt!«
»Sie ist anders, Jack. Du wirst schon sehen. Besonders, wenn du sie
dazu bringst, mit dir zu reden.«
Jack bestellte sich ein Taxi, das ihn zur Queen Street bringen
sollte. Er wollte seine Mutter in ihrem Studio erwarten. Mrs. Oastler schlang
die Arme um ihn und drückte ihn an sich, den [662] Kopf an seine Brust gelegt. »Es
wird schnell gehen, Jack. Es heißt, es wäre ziemlich schmerzlos, aber es wird
rasch gehen.« Die Arme um Leslie geschlungen, stand Jack in der Küche und
erwiderte ihre Umarmung, in der nichts Sexuelles lag – Leslie wollte lediglich,
daß er sie festhielt. »Rede mal mit Maureen Yap, Jack. Sie hat die ganze Nacht
aus dem Four Seasons angerufen und wollte dich sprechen.«
»Ich glaube nicht, daß Maureen mit mir reden will«, sagte er zu Mrs. Oastler.
»Ich habe gesagt, du sollst mit ihr reden,
Jack. Maureen Yap ist Ärztin. Sie ist Onkologin, verdammt noch mal.«
»Aha.«
Am Empfang des Four Seasons zeigte man sich erstaunt darüber,
daß Jack Burns sich erneut anmeldete. Er hatte vorgehabt, ein paar Tage in New
York zu verbringen, ehe er nach L.A. zurückflog,
doch als er sich – wiederum als Jimmy Stronach – eintrug, sagte er, er werde
bis auf weiteres, das heißt für unbestimmte Zeit, in Toronto bleiben. Außerdem
erkundigte er sich mit gespielter Beiläufigkeit, ob Maureen Yap schon
ausgecheckt habe. (Tatsächlich hatte Dr. Yap gerade den Zimmerservice angerufen
und Frühstück bestellt.)
Man gab ihm sein altes Zimmer wieder. Weil er vergessen hatte, das » BITTE NICHT STÖREN «-Schild von der Tür zu nehmen, und
den Zimmermädchen niemand gesagt hatte, daß er ausgecheckt hatte, war es fast
so, als hätte er das Hotel gar nicht verlassen und wäre gar nicht nach Forest
Hill und zurück gefahren – nur daß er jetzt wußte, daß seine Mutter unheilbar
krank war.
Er überlegte, ob er Maureen
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