Bis ich dich finde
nachdem, wo im Gehirn der Tumor sitzt. Du müßtest
mir das Computertomogramm schicken.«
»Okay«, sagte Jack. Ihm wurde bewußt, daß er weinte.
»Wenn er im Sehzentrum sitzt, wird sie blind. Wenn er im
Sprachzentrum sitzt – du verstehst, was ich meine. Wenn der Krebs sich durch
ein Blutgefäß frißt, erleidet sie eine Blutung und stirbt, ohne überhaupt zu
wissen oder zu spüren, was mit ihr passiert. Oder sie dämmert einfach weg, wenn
das Gehirn anschwillt.«
»Wird sie ins Koma fallen?« fragte er.
»Das könnte sein, Jack. Sie könnte ganz friedlich im Koma sterben –
sie könnte einfach zu atmen aufhören. Aber bis es so weit ist, könnte sie sich
für jemand anders halten. Sie könnte Halluzinationen haben – sie könnte
merkwürdige Gerüche riechen, die gar nicht vorhanden sind. Im Grunde genommen
ist alles möglich. Es wird ziemlich rasch und schmerzlos mit ihr zu Ende gehen.
Aber bis es soweit ist, weiß sie vielleicht nicht mehr, wer sie ist. Das
Schwierige für dich, Jack, wird sein, daß du dann vielleicht auch nicht mehr
weißt, wer sie ist.«
Das Schwierige für ihn war, wie er Maureen sagte, daß er nie gewußt
hatte, wer seine Mutter war. Die Schilderung ihres Endes kam ihm beinahe
vertraut vor.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich dich Dr. Yap nenne?« fragte er Maureen, als sie sich voneinander verabschiedeten.
»Nicht, wenn du mich jeden Tag anrufst«, sagte sie.
Das würde er natürlich nicht tun; Maureen wußte das. Als Jack [666] ihr
das Computertomogramm seiner Mutter schickte, hatte er bereits eine ziemlich
klare Vorstellung davon, wo der Tumor – die sogenannte ausgedehnte Läsion –
saß. Alice wußte es ebenfalls. Dr. Yaps Interpretation des Tomogramms
bestätigte die Prognose lediglich. Der Tumor befand sich im limbischen System –
dem Sitz der Gefühle.
»Scheiße, ist das nicht großartig!« sagte Leslie. »Wahrscheinlich
wird Alice die ganze Sache wahnsinnig komisch finden, oder sie wird im einen
Augenblick lachen und im nächsten heulen – ein emotionales Jo-Jo, bei dem sie
abwechselnd unanständige Witze erzählt oder in irgendeinem unsäglichen Kummer
ertrinkt!«
In Jacks Augen war seine Mutter schon immer so gewesen; daß nun ein
bösartiger Tumor das Gefühlszentrum ihres Gehirns einnahm, erschien ihm wenig
bemerkenswert. Er fand es geradezu normal.
»Wenn es so weit fortgeschritten ist«, hatte Maureen Yap ihn
vorgewarnt, »dann hat sich deine Mutter bestimmt schon mit dem Sterben
abgefunden. Stell dir nur vor, wie eingehend sie darüber nachgedacht hat. Sie
hat ja sogar irgendwann beschlossen, dir nichts zu sagen. Für mich heißt das,
daß sie viel darüber nachgedacht hat – jedenfalls ist sie soweit mit sich im
reinen, daß sie die Sache für sich behalten hat. Es ist Mrs. Oastler, die sich
nicht damit abfinden kann. Und du – du wirst gar
keine Zeit haben, dich damit abzufinden, bis sie gestorben ist. So schnell wird
das gehen, Jack.«
»Sie ist erst einundfünfzig!« hatte er geweint und sich dabei an
ihre kleinmädchenhaften Brüste, ihren kleinmädchenhaften Körper geschmiegt.
»Der Krebs mag einen, wenn man jung ist, Jack«, hatte Maureen zu ihm
gesagt. »Wenn man alt ist, macht sogar der Krebs langsamer.«
[667] Alice’ Krebs ließ sich nicht verlangsamen; er würde sich in
Windeseile mit ihr davonmachen, wie bei einer Krankheit, die zwanzig Jahre
Vorsprung hatte, nicht anders zu erwarten. Nachdem Jack sich von Dr. Yap
verabschiedet hatte, fuhr er in die Queen Street, ins Daughter Alice, wo er
wieder einmal in die Welt des Tätowierens eintauchte und mit seiner Mutter ein
kleines Gespräch führte. (Ein kleines Katz-und-Maus-Spiel träfe es eher.)
»Nimmst du immer noch Honig in deinen Tee, Liebes?« fragte ihn seine
Mutter, als er das Studio betrat. »Ich habe gerade eine Kanne aufgebrüht.«
»Keinen Honig, Mom. Wir müssen
miteinander reden.«
»Herrje, was sind wir heute morgen ernst!« sagte seine Mutter.
»Vermutlich hat Leslie auf ihre übliche dramatische Art aus dem Nähkästchen
geplaudert. Man könnte meinen, sie wäre diejenige,
der es an den Kragen geht – so wütend ist sie darüber!«
Jack blieb stumm; er ließ sie einfach reden, denn er wußte, sie
konnte jeden Moment dichtmachen. »Natürlich hat Leslie das Recht, wütend zu
sein«, fuhr Alice fort. »Immerhin bin ich dabei, sie zu verlassen, dabei habe
ich versprochen, daß ich das nie tun würde. Sie hat mich zu all diesen
Tätowierertagungen fahren lassen,
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