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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Küchentisch aus – als spielte
er eine Partie Patience nach radikal anderen Regeln.
    Die Fotos zeigten leicht unterschiedliche Ansichten des Oberkörpers
einer jungen Frau, vom hübschen Nabel bis zu den Schultern. Sie war nackt; ihre
vollen Brüste hingen nicht. Die Brüste und die Glätte ihrer Haut deuteten für
Jack auf ihre Jugend hin, doch vor allem fesselte ihn ihre Tätowierung. Es war
eine gute Tätowierung der alten Schule, wie seine Mutter das genannt haben
würde. Es handelte sich um ein traditionelles Herz – senkrecht entzweigerissen,
ganz in blauer Tinte ausgeführt. Die Tätowierung bestand lediglich aus Konturen
ohne Schattierung. Sie befand sich ganz außen am Ansatz der linken Brust, also
genau an der Stelle, wo sich die Tätowierung eines gebrochenen Herzens nach
Ansicht von Alice am besten verbergen ließ – und dieses gebrochene Herz hielten
wie eine Bandage die Worte Bis ich dich finde zusammen. Sie standen in Kursivschrift auf einem Spruchband.
    Die Tätowierung war so gut, daß sie von seiner Mutter hätte stammen
können, aber die Handschrift von Tochter Alice kannte Jack in- und auswendig;
es war nicht ihre Schrift. Außerdem hätte dort traditionsgemäß anstelle des Bis ich dich finde eher der Name des Liebsten stehen
müssen, der einen verlassen oder betrogen oder einem sonstwie das Herz
gebrochen hatte.
    Jack konnte sich ohne weiteres vorstellen, daß er eine Arbeit von
Tatovør-Ole oder Doc Forest oder Tatoeërer-Pieter vor sich hatte – womöglich
sogar einen alten Matrosen-Jerry, aus Halifax. Die Fotos wirkten alt genug.
Aber Jack hätte über die junge Frau, nicht über die Tätowierung nachdenken
sollen.
    [659]  »Du schaust auf die falsche Brust, Jack«, sagte Leslie Oastler.
»Ich weiß nicht, warum sich Alice die Mühe gemacht hat, diese Tätowierung all
die Jahre vor dir geheimzuhalten. Schließlich ist es nicht das, was sie
umbringen wird.«
    In diesem Augenblick ging Jack auf, daß er Bilder von den Brüsten
seiner Mutter vor sich hatte – die Fotos mußten somit vor ungefähr zwanzig
Jahren entstanden sein. Im Widerspruch zu dem, was man sich in der Welt des
Tätowierens über sie erzählte, von ihren eigenen Äußerungen ihm gegenüber ganz
zu schweigen, hatte sie sich also doch tätowieren lassen – wahrscheinlich, als
William ihr das Herz gebrochen hatte, oder kurz danach; jedenfalls, als Jack
noch ein Kind gewesen war, vielleicht sogar schon vor seiner Geburt.
    Daß sie ihre Tätowierung so beharrlich vor ihm verbarg, hatte er
fälschlich für Schamhaftigkeit gehalten, obwohl ihm das angesichts des
gegenteiligen Eindrucks, den sie ihm oft genug vermittelte, nie recht
eingeleuchtet hatte. Es war keine Schamhaftigkeit – daß sie nicht mit ihm hatte
baden wollen, daß sie sich ihm niemals nackt gezeigt hatte. (Und mit ihrer
angeblichen Kaiserschnittnarbe hatte es auch nichts zu tun.) Es war die
Tätowierung, die Alice vor ihm hatte verbergen wollen – und zwar nicht nur die Tatsache,
daß sie überhaupt tätowiert war, was ihrem Anspruch
auf Originalität unter ihren Kollegen zuwiderlief. Hauptsächlich war es die
Tätowierung selbst, die sie hatte verstecken müssen. Denn der dich in Bis ich dich finde mußte
sein verschwundener Vater sein – es war William, den
sie geheimgehalten hatte, und das von Anfang an! Und daß sie sich seinetwegen fürs ganze Leben zeichnete, strafte ihre
gespielte Gleichgültigkeit Lügen – die Einstellung ihrer Suche nach William und
ihre Weigerung, mit Jack über ihn zu reden.
    Die fünf Zentimeter lange Narbe außen am Ansatz von Alice’ rechter,
untätowierter Brust war schmal, das Werk eines Chirurgen, ohne sichtbare
Nahtspuren.
    [660]  »Sie hat die Lumpektomie mit einunddreißig gehabt«, teilte Mrs.
Oastler Jack mit. »Du warst damals zwölf – in der siebten Klasse, wenn ich mich
recht erinnere.«
    »Ich war in Redding«, erinnerte er sich laut. »Das war damals, als
Mom gesagt hat, sie kommt mich besuchen, und dann ist sie doch nicht gekommen.«
    »Sie hatte Bestrahlungen, Jack – und die Chemotherapie wurde alle
vier Wochen wiederholt, sechs Zyklen insgesamt. Von der Chemo war ihr jeden
Monat ein paar Tage lang übel – du weißt schon, Erbrechen – und natürlich sind
ihr die Haare ausgefallen. Sie wollte nicht, daß du sie kahlköpfig siehst oder
mit einer Perücke. Auf dem Foto ist die Narbe in ihrer rechten Achselhöhle
nicht zu sehen; sie ist schon schwer genug zu erkennen, wenn man direkt
draufschaut.

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