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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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lange
zurücklag. »Dein Vater war seiner Musik sehr viel stärker zugetan als dem
schönen Geschlecht, Jack«, fuhr sie fort. »Und wenn man ihn je spielen hörte«,
flüsterte Miss Wurtz und ergriff mit beiden Händen Jacks Hand. »Tja, es genügt
wohl, wenn ich sage: kein Wunder, daß die Musik ihn stärker in Anspruch
genommen hat als wir!«
    Kein Wunder, daß Jack die Wurtz in seinen Träumen mit Unterwäsche
aus dem Versandhauskatalog bekleidet hatte! Wer hätte der Versuchung
widerstehen können, ihr Kleider zu schenken? Sein Vater hatte es auch nicht
gekonnt!
    Jack hatte plötzlich Mühe beim Schlucken. »Hat meine Mutter Bescheid
gewußt?« fragte er Caroline.
    »Deine Mutter wußte, daß William meine Art zu sprechen gefiel. Mehr
wußte sie nicht«, sagte Miss Wurtz zu ihm. »William muß irgend etwas über meine
Stimme – meine Intonation, meine Artikulation – zu Alice gesagt haben. Mir hat
er immer voller Bewunderung gesagt, ich hätte keinen Akzent.«
    »Der Sprachunterricht war also Moms Idee?« fragte Jack. »Ich dachte,
Mrs. Wicksteed hätte gewollt, daß sie ihren schottischen Akzent loswird.«
    »Aber woher denn!« sagte Caroline lachend. »Mrs. Wicksteed war eine
Kanadierin alter Schule – sie liebte den schottischen
Akzent!«
    »Aber Sie müssen doch über die Mädchen Bescheid gewußt haben – ich meine
die Internatsschülerinnen, Caroline.«
    »Über diese albernen Mädchen hat doch jeder Bescheid gewußt!« rief
Miss Wurtz aus. »Du weißt doch, wie [699]  Internatsschülerinnen sind, Jack. Wenn
sie ganz ohne fremdes Zutun schwanger werden könnten, würden sie das
wahrscheinlich auch ausprobieren.«
    »Aber Sie hat er doch auch verlassen, oder nicht?« fragte Jack. »Sie
machen nicht den Eindruck, als ob Sie ihn hassen.«
    »Ich habe nie erwartet, daß er bei mir bleibt, Jack. Natürlich hasse
ich ihn nicht! William war eines dieser Vergnügen, die sich jede Frau
wenigstens einmal in ihrem Leben gönnen will. Bei allem Respekt für Alice,
Jack, aber man macht sich etwas vor, wenn man sich einbildet, man könnte einen
solchen Mann halten. Zumal in seinem Alter und zu jener Zeit – er war so jung!«
    Als Jack die Wurtz nun ansah, stand ihm alles, was er verloren
hatte, deutlich ins Gesicht geschrieben – so hatte er wohl auch ausgesehen, als
seine Mutter sagte: »Wer weiß, was für ein Vater er gewesen wäre, Jack. Bei
einem solchen Mann«, hatte Alice angewidert gesagt, »kann man nie wissen.« Doch
Miss Wurtz hatte genau denselben Ausdruck – ein solcher Mann – mit unverminderter Zuneigung gebraucht!
    »Wenn Sie meine Mutter gewesen wären«,
sagte er zu Caroline, »hätte ich einen Vater gehabt. Zumindest hätte ich ihn ab
und zu gesehen.«
    »Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm oder über ihn gehört«,
sagte Miss Wurtz. »Aber das heißt nicht, daß du ihn nicht finden kannst.«
    »Vielleicht ist er tot, Caroline. Mom
ist es schließlich auch.«
    Die Wurtz beugte sich über den Tisch und packte Jack am linken Ohr.
Es war, als wäre sie Mrs. McQuat und er wäre immer noch in der dritten Klasse
und würde gleich von der Frau in Grau zur Kapelle abgeführt werden.
    »Du kleingläubiger Junge!« sagte sie. »Wenn William tot wäre, hätte
mein Herz zu schlagen aufgehört! An dem Tag, an dem er stirbt, werden meine
Brüste im Schlaf auf Rosinengröße schrumpfen – oder ich verwandle mich in
Linoleum oder sonst etwas!«
    [700]  Linoleum?, wunderte sich Jack. (Die arme Frau war zu lange in St.
Hilda gewesen.) Sein Ohr, das sie immer noch festhielt, pochte. Plötzlich ließ
Miss Wurtz ihn los; wie ein junges Mädchen lachte sie über sich selbst. »Nun
klinge ich selbst schon wie eine hirnlose Internatsschülerin!« rief sie aus.
»Du kleingläubiger Junge«, sagte sie noch einmal – diesmal liebevoll. »Geh und
finde ihn!«
    »Gib mir den Kontext, Zuckerbär«, pflegte Emma zu sagen. »Alles
hat einen Kontext.«
    An jenem Samstag im März – es war 1998, und der März in Toronto
bietet kein verläßliches Motorradwetter – ging Jack zu Fuß zu der
halbkreisförmigen Auffahrt Ecke Pickthall und Hutchings Hill Road, wo er damals
an der Hand seiner Mutter in einem Meer von Mädchen gestanden hatte.
    Die Maschinen waren mit ausgeschaltetem Motor in einer Reihe von
nicht ganz militärischer Präzision geparkt. Der Himmel war bedeckt, in der Luft
lag unwirtliche Kälte, und die Benzintanks der Maschinen waren mit Tröpfchen
beperlt und schimmerten im leichten Nieselregen. Bei

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