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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Norwegen
    Alice
fand in Oslo nur wenige Kunden. Die Verwegenen unter den Ausländern und
Restaurantgästen des Bristol, die ihr Angebot annahmen, hatten bereits eine
Tätowierung.
    Weil auch im Bristol das Frühstück im Zimmerpreis inbegriffen war,
fuhren Jack und seine Mutter fort, bei dieser Mahlzeit soviel wie möglich in
sich hineinzustopfen. Bei einem dieser opulenten Frühstücke lernten sie einen
deutschen Geschäftsmann kennen, der in Begleitung seiner Frau reiste. Er hatte
ein »Seemannsgrab« auf der Brust (ein sinkendes Schiff, an dessen Steven noch
die deutsche Flagge wehte) und auf dem rechten Oberarm den Leuchtturm von St.
Pauli – solide Seemannstätowierungen von Herbert Hoffmann, der sein Studio
unweit der Reeperbahn hatte.
    Der Deutsche wollte, daß Alice seine Frau tätowierte, die auf dem
Rücken bereits eine fünfundvierzig Zentimeter lange Echse hatte. Nach dem
Frühstück suchte sie sich aus Alice’ Flashs eine leuchtendgrüne Spinne aus.
Alice tätowierte ihr eine pechschwarze Spirale auf das Ohrläppchen; die Spinne
hing an einem roten Faden in der Höhlung zwischen Schlüsselbein und Kehle.
    »Für Oslo ganz schön ehrgeizig«, sagte Alice zu dem deutschen Paar.
    Alice freute sich darauf, irgendwann Herbert Hoffmann
kennenzulernen; sie wollte schon immer einmal nach St. Pauli fahren. Hoffmann
machte, wie Tatovør-Ole und Tatoeërer-Pieter, diese Nordseetätowierungen, die
sie im Studio ihres Vaters gesehen hatte. Sie wußte, daß Tatovør-Ole Herbert
Hoffmann seine [78]  erste Tätowiermaschine geschenkt hatte und daß Hoffmann Tätowierungen
von Tatovør-Ole und Tatoeërer-Pieter hatte.
    Jacks Wunsch, einmal einen Blick auf Herbert Hoffmann zu werfen, war
weniger professioneller Natur. Ole hatte dem Jungen erzählt, Hoffmann habe
einen großen Vogel auf dem Hintern, seine ganze linke Pobacke sei von einem das
Rad schlagenden Pfau bedeckt! Und Jacks Neugier auf Tatoeërer-Pieter hatte
weniger mit seinem Ruf als Tätowierer zu tun als mit der faszinierenden
Tatsache, daß er nur noch ein Bein hatte.
    Doch der Anblick der Hoffmanns auf den beiden Deutschen weckte in
Alice den Wunsch, nach Hamburg zu reisen. Sie war außerdem enttäuscht, daß sie
erst nach einer ganzen Woche in Oslo einen Kunden fand, der sich zum ersten Mal
tätowieren ließ – eine »Jungfrau«, wie Alice es nannte. Vielleicht gab es in
Norwegen niemanden, der einen Wendepunkt in seinem Leben suchte – oder
jedenfalls kein Erlebnis dieser Art und gewiß nicht im Hotel Bristol.
    Im Lauf ihrer Frühstücke, bei denen sie weiterhin Mengen vertilgten,
die in krassem Gegensatz zu den Hungerrationen standen, die sie bei den anderen
Mahlzeiten zu sich nahmen, stellte Jack fest, daß er Graved Lachs lieber mochte
als Räucherlachs. Die Moltebeeren, die man Kindern zu allen Mahlzeiten mit
wiederholtem Enthusiasmus anbot, erwiesen sich als sehr lecker, und obgleich es
unmöglich war, Rentierfleisch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu
vermeiden, weigerte sich Jack mit Erfolg, die Zunge des armen Tiers zu essen.
Zwar beschränkten sie sich bei Mittag- und Abendessen auf Vor- und Nachspeisen,
aber dennoch kostete das Essen sie mehr, als Alice verdiente. Und niemand in
Oslo wollte mit ihnen über William sprechen. In Norwegen war das angebliche
Objekt von Williams Begierde (und sein späteres Verderben) ein Mädchen gewesen,
das so jung war, daß man – auch als Erwachsener – nicht ohne Unbehagen darüber
hätte sprechen können.
    [79]  Vom Eingang des Bristol aus sieht man die Kathedrale von
Oslo, sie liegt ein wenig weiter den Hügel hinauf. Aus dieser Perspektive
schien sich die Domkirke mitten auf der Fahrbahn am Ende der langen, mit einem
Netz aus Oberleitungen überspannten Straße zu erheben. Dennoch fuhren sie am
ersten dunklen Morgen nicht mit der Straßenbahn, denn bis zur Kirche war es
nicht weit.
    »Ich wette, das ist sie«, sagte Alice.
    »Warum?« fragte Jack.
    »Ich glaube es eben.«
    Die Domkirke wirkte bedeutend genug, um eine Orgel mit
einhundertzwei Registern zu haben. Es war eine Walcker-Orgel aus Deutschland;
sie war 1883 und 1930 restauriert worden. Das Orgelgehäuse stammte aus dem Jahr
1720. Es war 1950 grau lackiert worden – ursprünglich war es grün gewesen –,
und diese Farbe betonte das Monumentale und Feierliche, das vom Prospekt der
alten Barockorgel ausging.
    Die Kathedrale von Oslo war aus Ziegeln gebaut, die Kuppel hatte den
grünlichen Schimmer angelaufenen Kupfers, und die

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