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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die Liebe denn nicht eine Suche nach sich selbst, genau wie die
erste Tätowierung? Jack hatte seine Mutter und Ole über diese Wendepunkte im
Leben anderer Menschen sprechen hören, die die Inspiration zu einer Tätowierung
sein konnten – beinahe jede Selbstsuche besaß dieses Potential. Und dieses
Pärchen hatte sich offenbar gerade erst gefunden. Wenn die beiden Hotelgäste
waren, hatten sie vermutlich vorhin miteinander geschlafen – auch wenn Jack von
diesen Dingen nichts wußte. (Höchstwahrscheinlich konnten sie das Ende des
Essens kaum erwarten, damit sie endlich wieder auf ihr Zimmer gehen und noch
einmal miteinander schlafen konnten.)
    Nicht einmal die Anwesenheit des Obers, der bereitstand, um ihnen
seine Empfehlungen zu erläutern, konnte sie davon abhalten, einander zu
berühren und zu streicheln. Als der Ober ihre Bestellung aufgenommen hatte,
stieß Jack seine Mutter an und sagte: »Soll ich sie
fragen? Ich weiß, wie das geht.«
    »Nein, bitte – iß einfach deinen Lachs«, antwortete sie, noch immer
flüsternd.
    Selbst in dieser brutal kalten Jahreszeit trug die junge Frau nur [75]  ein dünnes Kleid, und ihre Beine waren nackt. Jack dachte, daß sie bestimmt
Hotelgäste waren, denn in einer solchen Aufmachung wäre niemand aus dem Haus
gegangen – nicht bei diesem Wetter. Außerdem glaubte er eine Tätowierung zu
erkennen – es konnte allerdings auch ein Muttermal sein –, und zwar an der
Innenseite ihres Knies. Sie erwies sich schließlich als blauer Fleck, doch
dieser dunkle Schatten war es, der den Jungen dazu bewog, aufzustehen, und ihm
den Mut gab, an den Tisch der beiden zu treten. Seine Mutter blieb, wo sie war.
    Jack ging zu der jungen Frau und sagte die Sätze, die er abends im
Bett sprach, um schneller einzuschlafen.
    »Haben Sie eine Tätowierung?« (Er sagte es auf englisch. Hätte er
den Satz auf schwedisch gesprochen, dann hätten ihn die meisten Norweger
verstanden.)
    Die Frau schien das Ganze für einen Witz zu halten. Der Mann sah
sich um, als hätte er sich in der Wahl des Hotels geirrt. War dieser Junge so
eine Art Alleinunterhalter? Jack wußte nicht, ob er den jungen Mann in
Verlegenheit gebracht hatte oder was sonst mit ihm los war; fast schien es, als
bereitete es ihm Unbehagen, Jack auch nur anzusehen.
    »Nein«, sagte die junge Frau, ebenfalls auf englisch. Der Mann
schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er ebenfalls keine Tätowierung.
    »Wollen Sie eine?« fragte Jack die Frau – nur die Frau.
    Der Mann schüttelte abermals den Kopf. Er musterte Jack mit einem
seltsamen Blick, als hätte er noch nie ein Kind gesehen. Doch jedesmal, wenn
Jack ihn ansah, wandte er den Kopf.
    »Vielleicht«, sagte seine schöne Frau oder Freundin.
    »Wenn Sie Zeit haben – ich habe ein Zimmer und alles, was man
braucht«, sagte Jack zu ihr, aber irgend etwas lenkte sie ab. Alle beide sahen
nicht Jack an, sondern starrten auf seine Mutter. Sie saß noch an ihrem Tisch,
aber sie weinte. Jack wußte nicht, was er tun sollte.
    [76]  Die Frau, die sich mehr Gedanken über Jack als über seine Mutter
zu machen schien, beugte sich so weit vor, daß er ihr Parfum riechen konnte.
»Wie lange dauert das?« fragte sie ihn.
    »Das kommt darauf an«, stieß Jack hervor. Er kannte nur die
auswendig gelernten Sätze. Es machte ihm angst, daß seine Mutter weinte; um sie
nicht ansehen zu müssen, starrte er auf die Brüste der jungen Frau. Als er seine
Mutter nicht mehr weinen hörte, beunruhigte ihn das noch stärker.
    »Was kostet es?« fragte der Mann, allerdings nicht in einem Ton, als
dächte er ernsthaft darüber nach, sich tätowieren zu lassen. Es klang eher, als
wollte er Jacks Gefühle nicht verletzen.
    »Das kommt auch darauf an«, sagte Alice. Sie hatte nicht nur
aufgehört zu weinen, sie stand jetzt auch direkt hinter ihrem Sohn.
    »Vielleicht ein andermal«, sagte der Mann; eine gewisse Bitterkeit
in seiner Stimme ließ Jack aufsehen. Seine Frau oder Freundin nickte nur, als
hätte irgend etwas sie verängstigt.
    »Komm mit, mein kleiner Schauspieler«, flüsterte Jacks Mutter ihm
zu. Der Mann hatte aus irgendeinem Grund die Augen geschlossen. Es war, als
wollte er Jack nicht fortgehen sehen.
    Ohne sich umzudrehen, streckte Jack die Hand, die der Empfangschef
so schmerzhaft gedrückt hatte, hinter sich und fand instinktiv die Hand seiner
Mutter. Wenn Jack Burns das Bedürfnis hatte, ihre Hand zu halten, konnten seine
Finger auch im Dunkeln sehen.

[77]  4
    Kein Glück in

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