Bis ich dich finde
der
leeren Kathedrale wider.
»Die Frau schon – ich meine, das Kind«, sagte Alice. »Ich werde mit
Ingrid Moe sprechen!«
Doch als sie das nächste Mal zur Kathedrale gingen, hatte Jack das
Gefühl, daß man ihnen auswich. Die Putzfrau war nicht da. Bei einem
Wandleuchter stand ein Mann auf einer Leiter und wechselte durchgebrannte
Glühbirnen aus. Für einen Küster war er zu gut gekleidet. (Vielleicht ein
besonders engagiertes Gemeindemitglied, ein selbsternanntes Mädchen für alles.)
Wer er auch sein mochte – es war deutlich, daß er wußte, wer Alice und Jack
waren, und daß er nicht mit ihnen sprechen wollte.
»Kennen Sie einen Schotten namens William Burns?« fragte ihn Alice,
doch er ging einfach fort. »Ingrid Moe! Kennen Sie sie ?«
rief Alice ihm nach. Der Mann ging einfach weiter, doch Jack hatte ihn
zusammenzucken sehen. (Und dann war da noch das nur zu vertraute Geräusch eines
Kameraverschlusses, als Jack vor der Domkirke stand und die Hand seiner Mutter
hielt. Jemand machte Fotos von ihnen, bevor sie ins Hotel Bristol
zurückkehrten.
An einem Samstagmorgen schließlich spielte ein unsichtbarer
Organist. Jack streckte die Hand nach der seiner Mutter aus, und sie führte ihn
zur Orgel. Erst später wunderte er sich darüber, daß sie den Weg kannte.
Der Organist saß auf einer Empore; man mußte eine Treppe an der
Rückseite der Kirche hinaufsteigen. Der Organist war so in sein Spiel vertieft,
daß er Alice und Jack erst bemerkte, als sie neben ihm standen.
»Sind Sie Rolf Karlsen?« Alice’ Stimme verriet ihre Zweifel. Der
junge Mann auf der Orgelbank war ein Teenager – das konnte auf keinen Fall Rolf
Karlsen sein.
»Nein«, sagte der junge Mann. Er hatte sofort aufgehört zu spielen.
»Ich bin nur sein Schüler.«
[83] »Sie spielen sehr gut«, sagte Alice. Sie ließ Jacks Hand los und
setzte sich neben dem jungen Mann auf die Bank.
Er sah ein wenig aus wie Herzensbrecher-Lars: blond, blauäugig und
zart, aber jünger und untätowiert. Niemand hatte ihm die Nase gebrochen, die so
klein war wie die eines Mädchens, und auch Madsens verunglücktes Ziegenbärtchen
war ihm erspart geblieben. Seine Hände waren auf den Registern erstarrt; Alice
nahm die, die ihr am nächsten war, und legte sie in ihren Schoß.
»Sehen Sie mich an«, flüsterte sie. (Er konnte nicht.) »Dann hören
Sie zu«, fuhr sie fort und erzählte ihre Geschichte. »Ich kannte mal einen
jungen Mann wie Sie, er hieß William Burns. Das ist sein Sohn«, sagte sie mit
einer Kopfbewegung zu Jack hin. »Sehen Sie ihn sich an.« (Er wollte nicht.)
»Ich soll nicht mit Ihnen sprechen«, stieß er hervor.
Mit ihrer freien Hand strich Alice ihm über die Wange, und er wandte
sich ihr zu. Ein Sohn sieht seine Mutter auf eine besondere Weise; besonders
als Kind fand Jack seine Mutter so schön, daß es ihm schwerfiel, sie anzusehen,
wenn sie ihr Gesicht dicht an das seine brachte. Jack konnte verstehen, daß der
junge Mann die Augen schloß.
»Wenn Sie nicht mit mir sprechen, werde ich mit Ingrid Moe
sprechen«, sagte Alice, doch Jack hatte – vielleicht aus Solidarität mit dem
jungen Mann – die Augen geschlossen, und immer, wenn er das tat, hörte er nicht
gut. In der Dunkelheit geschah zu vieles, was ihn ablenkte.
»Ingrid hat eine Sprachbehinderung«, sagte der junge Mann. »Sie
spricht nicht gern.«
»Dann ist sie wohl kein Chormädchen«, sagte Alice. Sowohl Jack als
auch der junge Mann öffneten die Augen.
»Nein, allerdings nicht. Sie studiert
Orgel wie ich.«
»Wie heißen Sie?« fragte Alice.
»Andreas Breivik.«
[84] »Haben Sie eine Tätowierung, Andreas?« Offenbar war er über die
Frage zu verblüfft, um antworten zu können; damit hatte er nicht gerechnet.
»Wollen Sie eine?« flüsterte Alice. »Es tut nicht weh, und wenn Sie mir mehr
erzählen, mache ich Ihnen eine Gratistätowierung.«
Eines Sonntagmorgens vor der Kirche saß Jack im Frühstücksraum
des Hotels Bristol und stopfte sich noch mehr als gewöhnlich voll. Seine Mutter
hatte ihm gesagt, wenn er im Frühstücksraum bleibe, während sie Andreas seine
Gratistätowierung mache, dürfe er so viel essen, wie er wolle. (Sie würde es ja
ohnehin nicht verhindern können.) Er hatte sich den Teller bereits zweimal am
Büffet vollgeladen, als ihm der Gedanke kam, es sei vielleicht doch nicht so
gut gewesen, eine zweite Portion Bratwurst zu essen, aber da war es schon zu
spät, und die Würste wühlten in seinen Gedärmen.
Obwohl seine Mutter
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