Bis ich dich finde
Turmuhr war groß und
ehrfurchtgebietend. Das Zifferblatt kündete von einer erhabenen
Ernsthaftigkeit, die über die reine lutherische Lehre hinausging – als diente
das Gebäude in Wirklichkeit nicht so sehr der täglichen Ausübung des Glaubens,
sondern vielmehr in erster Linie zur Aufbewahrung von Reliquien.
Dieser erste Eindruck bestätigte sich, als sie in die Kirche traten.
Es brannten keine Kerzen; die Kathedrale wurde von elektrischen Lichtern
erhellt. Von der Decke hingen gewaltige Leuchter, und altmodische Wandlampen
gaben ein kerzentrübes Licht. Den Altar schmückten, was nicht weiter
verwunderlich war, eine Darstellung des letzten Abendmahls und der Kreuzigung,
und es stand so viel Krimskrams darauf herum, daß er aussah wie ein Tisch in
einem Trödelladen. Die kurze, breite Treppe zur Kanzel war mit geschnitzten,
vergoldeten Blättergirlanden verziert. [80] Wie als Schutz, sollte der Himmel
einstürzen, schwebte über der Kanzel eine Wolke voller Engel, von denen einige
Harfe spielten.
Niemand spielte Orgel, niemand saß da und betete. Nur eine Putzfrau,
die sich auf ihren Mop wie auf einen Krückstock stützte, war da, um sie zu
begrüßen – und das tat sie argwöhnisch. Wie Alice Jack später erklärte, wollte
niemand, der auch nur oberflächlich mit der Domkirke zu tun hatte, an William
erinnert werden. Und Jack erinnerte an ihn.
Als die Putzfrau den Jungen sah, erstarrte sie. Sie holte Luft und
hielt den Mop mit ausgestreckten Händen vor sich wie ein Kruzifix, als hoffte
sie Jack damit abzuwehren, wenn sie sich schutzsuchend daran klammerte.
»Ist der Organist da?« fragte Alice.
»Welcher Organist?« rief die Putzfrau.
»Wie viele gibt es denn?« fragte Alice.
Ohne Jack aus den Augen zu lassen, sagte die Putzfrau, der Organist
der Domkirke sei Rolf Karlsen. Er sei aber »weg«. Das Wort weg bewirkte, daß Jack sich nicht mehr konzentrieren konnte; die Kirche wirkte mit
einemmal, als gäbe es hier Gespenster.
»Herr Karlsen ist ein großer Mann«, sagte die Frau, und es war nicht
ganz klar, ob sie damit seine körperliche Erscheinung oder seine Bedeutung –
oder beides – meinte.
Auch der Pfarrer sei nicht da, fuhr die Putzfrau fort. Sie starrte
Jack wie gebannt an und merkte gar nicht, daß sie den Mop hin und her bewegte
wie einen Zauberstab. Jack sah sich nach ihrem Eimer um, konnte ihn aber
nirgends entdecken. (Wie kann man mit einem Mop wischen, wenn man keinen Eimer
hat? fragte er sich.)
»Eigentlich«, begann Alice, »suche ich einen jungen Organisten, einen Ausländer namens William Burns.«
Die Putzfrau schloß die Augen wie zum Gebet, als hoffte sie, [81] der
Mop werde sich tatsächlich in ein Kruzifix verwandeln und sie retten. Sie hob
ihn mit feierlicher Gebärde und zeigte damit auf Jack.
»Das ist sein Sohn!« rief sie. »Man müßte schon blind sein, um diese
Wimpern nicht wiederzuerkennen!«
Es war das erste Mal, daß jemand sagte, Jack sehe seinem Vater
ähnlich. Seine Mutter starrte ihn an, als habe sie diese Ähnlichkeit bisher nie
bemerkt; sie wirkte plötzlich nicht weniger beunruhigt als die Putzfrau.
»Und Sie armes Ding müssen seine Frau sein«, sagte die Putzfrau.
»Ich wollte es einmal werden. Ich bin Alice Stronach, und das ist
mein Sohn Jack«, sagte Alice und streckte der Putzfrau die Hand hin.
Die Putzfrau ergriff sie mit kräftigem Druck, nachdem sie ihre an
der Schürze abgewischt hatte. Wie kräftig ihr Händedruck war, sah Jack daran,
daß seine Mutter die Zähne zusammenbiß.
»Ich bin Else-Marie Lothe«, stellte sich die Frau vor. »Gottes
Segen, Jack«, sagte sie zu dem Jungen. Er dachte an den Empfangschef des Hotels
Bristol und gab ihr lieber nicht die Hand.
Über die Einzelheiten dessen, was vorgefallen war, wollte Else-Marie
nicht sprechen. Sie sagte nur, die gesamte Gemeinde sei über »diese Episode«
noch längst nicht hinweg. Alice und Jack sollten lieber heimfahren.
»Und wie hieß die betreffende Frau diesmal?« fragte Alice.
»Ingrid Moe ist keine Frau – sie ist ein Kind!« rief Else-Marie.
»Nicht wenn Jack dabei ist«, sagte Alice.
Die Putzfrau legte ihre trockenen, kräftigen Hände über Jacks Ohren
und sagte etwas, was er nicht verstehen konnte; auch die Antwort seiner Mutter
hörte er nicht, aber in Else-Maries letztem Satz zu ihr kamen die Worte »armes
Ding« nicht mehr vor. »Niemand wird mit Ihnen sprechen!« rief sie den beiden
nach, [82] als sie zum Portal der Domkirke gingen. Ihre Worte hallten in
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