Bis ich dich finde
der erste
Norweger, den Jack kennenlernte.
Die Halle des Bristol war nicht so großartig wie die des Grand
Hotels. Jack hoffte, er werde sich nicht daran gewöhnen müssen. Es war ihm
egal, ob die Orgel alt war – wenn es nach ihm ginge, hätte das blöde Ding auch zwei hundertzwei Register haben können.
Bis jetzt schuldeten Jack und seine Mutter drei Tätowierern, zwei
Organisten, einem kleinen Soldaten und einem tätowierten Buchhalter Dank. Wer
würde der nächste sein? fragte sich der Junge, als sie dem Pagen und ihrem
Gepäck durch einen langen, mit einem Teppich ausgelegten Korridor folgten.
Ihr Zimmer im Hotel Bristol war klein und stickig. Bei ihrer Ankunft
war es draußen bereits dunkel – das war es beinahe immer –, und durch das
Fenster sah man nur das Haus gegenüber. (Es gab da drüben ein paar trübe
beleuchtete Zimmer mit geschlossenen Vorhängen, was Alice zu Schlüssen auf das
dumpfe, verdruckste Leben ihrer Bewohner bewog – nicht gerade das Leben, das
sie sich einst an Williams Seite erträumt hatte.)
Seit dem Frühstück im Grand Hotel hatten sie nichts mehr gegessen.
Der Page sagte, im Speisesaal werde noch serviert, empfahl ihnen aber, sich zu
beeilen. Alice hatte Jack bereits gesagt, das Restaurant sei bestimmt sehr
teuer, daher würden sie nur wenig bestellen.
Die Empfehlung des Pagen gefiel Jack nicht besonders. »Sie müssen
die Moltebeeren probieren«, sagte er, »und natürlich Rentierzunge.«
»Bestell dir Lachs«, sagte seine Mutter, als der Page gegangen war.
»Wir können ihn ja teilen.«
Das war der Augenblick, in dem der Junge zu weinen begann– nicht
weil seine Finger noch immer vom Händedruck des Empfangschefs schmerzten oder
weil er hungrig und müde war und genug hatte von Hotelzimmern. Es lag auch
nicht an der für [73] Skandinavien typischen winterlichen Dunkelheit, an jenem
Fehlen von Licht, das vermutlich nicht wenige Schweden und Norweger dazu
bringt, sich in einen Fjord zu stürzen, sofern sie einen finden, der nicht
zugefroren ist. Nein, es war nicht die Reise, die den Jungen zum Weinen
brachte, sondern der Grund für die Reise.
»Es ist mir egal, ob wir ihn finden oder
nicht!« schrie er seine Mutter an. »Ich hoffe, wir finden ihn nicht !«
»Wenn wir ihn gefunden haben, wird es dir nicht mehr egal sein. Es
wird eine Bedeutung haben«, sagte sie.
Aber wenn sie die Pflicht und Schuldigkeit seines Vaters waren und
er sich dieser Pflicht und Schuldigkeit entzog, hieß das dann nicht, daß er
bereits zum Ausdruck gebracht hatte, wie enttäuscht er von ihnen war? Hatte
William denn nicht Alice und Jack verlassen, und
würde er sie, wenn sie ihn je fanden, nicht wieder verlassen? (Natürlich konnte
der Junge mit seinen vier Jahren das alles nicht ausdrücken, doch er empfand
es, und deswegen weinte er.)
Weil seine Mutter darauf bestand, hörte Jack auf zu weinen, damit
sie in den Speisesaal gehen konnten.
»Wir werden uns den Lachs teilen«, sagte Alice zum Ober.
»Keine Rentierzunge«, sagte Jack. »Keine
Moltebeeren.«
Sie waren praktisch allein. Ein älteres Ehepaar saß schweigend da;
daß die beiden einander nichts zu sagen hatten, mußte nicht heißen, daß sie
eine Tätowierung wollten. An einem Tisch in der Ecke saß ganz allein ein Mann.
Er schien schwermütig, schon jenseits der Verzweiflung – ein Kandidat für den
Sprung in den Fjord.
»Den kann eine Tätowierung auch nicht retten«, sagte Alice.
Dann trat ein junges Paar in den Speisesaal. Zum ersten Mal sah
Jack, wie seine Mutter auf ein Liebespaar reagierte: Sie machte ein Gesicht wie
eine Fjordspringerin, wie eine, die keine Sekunde zögern würde.
[74] Der Mann war schlank und athletisch gebaut und hatte langes Haar,
das bis zu den Schultern reichte – er sah aus wie ein Rockstar, nur war er
besser gekleidet –, und seine Frau oder Freundin konnte weder den Blick von ihm
wenden noch die Finger von ihm lassen. Sie war eine große, schlaksige junge
Frau mit breitem Lächeln und einem sehr schönen Busen. (Schon mit vier hatte
Jack einen Blick für Busen.) Ob sie Hotelgäste waren oder in Oslo wohnten – sie
waren so cool wie nur irgendein Paar, das bei Tatovør-Ole hereingeschneit war.
Wahrscheinlich hatten sie sich bereits tätowieren lassen.
»Frag sie«, sagte Jack zu seiner Mutter, doch sie brachte es nicht
über sich, sie anzusehen.
»Nein«, flüsterte sie. »Die nicht. Das
kann ich nicht.«
Jack verstand nicht, was mit ihr los war. Die beiden waren ein
Liebespaar. War
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