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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihm gesagt hatte, er solle im Frühstücksraum auf
sie warten – sie werde zum Frühstück herunterkommen, wenn sie mit Andreas
fertig sei –, war Jack klar, daß er dringend eine Toilette brauchte. Gewiß gab
es eine Herrentoilette im Erdgeschoß des Hotels Bristol, aber der Junge wußte
nicht, wo. Anstatt zu riskieren, daß er sie nicht rechtzeitig fand, rannte er
die Treppe hinauf und durch den langen, mit einem Teppich ausgelegten Korridor
zu ihrem Zimmer, wo er an die Tür hämmerte, damit seine Mutter ihn einließ.
    »Einen Moment!« rief sie mehrmals.
    »Es ist wegen der Wurst !« rief Jack. Als
Alice endlich die Tür öffnete, krümmte er sich zusammen.
    Jack rannte ins Badezimmer und schloß die Tür so schnell, daß er das
ungemachte Bett und die nackten Füße der Mutter kaum bemerkte – auch daß
Andreas Breivik den Reißverschluß seiner Jeans zuzog, entging ihm. Das Hemd des
Orgelschülers war aufgeknöpft und hing über der Hose, doch von einer
Tätowierung [85]  sah Jack nichts. Andreas’ Gesicht – besonders die Mundpartie –
war gerötet und verquollen, als habe er es heftig gerieben.
    Vielleicht hatte er geweint, dachte Jack. »Es tut nicht weh«, hatte
Alice gesagt, aber Jack wußte, daß es eben doch weh tat. (Manche Tätowierungen
mehr als andere, je nachdem, wo man sich tätowieren ließ und welche Farben
benutzt wurden – bestimmte Pigmente waren für die Haut giftiger als andere.)
    Als Jack aus dem Badezimmer trat, waren seine Mutter und Andreas
ganz angezogen, und das Bett war gemacht. Tätowiermaschinen, Papiertücher, Vaseline,
Pigmente, Alkohol, Hamamelisextrakt, Glyzerin, Akkus, Fußschalter, ja sogar die
kleinen Pappbecher – alles war weggeräumt. Eigentlich konnte Jack sich gar
nicht erinnern, irgend etwas von dem ganzen Zeug gesehen zu haben, als er durch
das Zimmer ins Bad gerannt war.
    »Hat es weh getan?« fragte er Andreas.
    Der junge Orgelschüler hatte ihn entweder nicht gehört oder befand
sich in einem Schockzustand und mußte sich erst vom Schmerz der ersten
Tätowierung seines Lebens erholen. Er sah Jack nur verblüfft an. Alice lächelte
und fuhr ihrem Sohn durchs Haar. »Es hat nicht weh getan, oder?« fragte sie
Andreas.
    »Nein!« rief er viel zu laut. Wahrscheinlich wollte er es nur nicht
zugeben. Nicht noch eine Rose von Jericho auf der Brust, nahm Jack an – dafür
hatte es nicht lange genug gedauert. Vielleicht irgend etwas Kleines in der
Nierengegend.
    »Wo hast du ihn tätowiert?« fragte Jack seine Mutter.
    »An einer Stelle, die er nie vergessen wird«, flüsterte sie und
lächelte Andreas zu. Wahrscheinlich auf dem Brustbein, dachte Jack. Das würde
erklären, warum der junge Mann erzitterte, als Alice ihn berührte. Sie schob
ihn sanft zur Tür, und es sah aus, als würde das Gehen ihm Schmerzen bereiten.
    »Du solltest den Verband erst morgen abnehmen«, riet ihm Jack. »Es
fühlt sich an wie ein Sonnenbrand. Am besten, du tust ein bißchen
Feuchtigkeitscreme drauf.«
    [86]  Andreas Breivik stand wie betäubt auf dem Korridor und machte ein
Gesicht, als gingen sogar diese einfachen Anweisungen über seinen Verstand.
Alice winkte ihm und schloß die Tür.
    An der Art, wie seine Mutter sich auf das Bett setzte, sah Jack, daß
sie müde war. Sie ließ sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf den
Rücken sinken und begann zu lachen. Jack kannte dieses Lachen: Es ging – aus
keinem erkennbaren Grund – rasch in Weinen über. Als sie zu weinen begann,
fragte er sie, wie so oft, was denn los sei.
    »Andreas wußte gar nichts«, schluchzte sie. Sie faßte sich und fügte
hinzu: »Wenn er irgendwas gewußt hätte, hätte er es mir gesagt.«
    Wenn Alice noch frühstückte, würden sie zu spät zur Kirche kommen;
außerdem, sagte sie, habe Jack genug für zwei gegessen.
    Wenn sie ihre Wäsche waschen ließen, erhielten sie ihre Kleider
gebügelt und um rechteckige Kartonstücke gefaltet zurück. Jack sah zu, während
seine Mutter ein solches weißes Kartonstück nahm und mit dem Filzstift, den sie
auch zum Beschriften ihrer Pigmentröhrchen benutzte, in Großbuchstaben INGRID MOE darauf
schrieb.
    Alice schob das Schild unter ihren Mantel, und dann gingen sie den
Hügel hinauf zur Domkirke. Als sie dort ankamen, hatte der Sonntagsgottesdienst
bereits begonnen. Die Orgel erklang, der Chor sang den Eingangschoral. Wenn es
eine Prozession gegeben hatte, dann hatten sie sie verpaßt. Jack dachte, daß
wahrscheinlich der große Rolf Karlsen die Orgel

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