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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fragte Leslie. Jacks Hand war nach wie
vor ausgestreckt. »›Lieber Jack –‹«, begann Mrs. Oastler und unterbrach sich
prompt. »Na ja, sogar deine Fans reden dich mit ›Jack‹ an – du siehst also, ich
konnte gar nicht wissen, daß sie dich tatsächlich kennt.«
    »Völlig verständlich«, sagte Jack, dessen Stimme ruhig blieb.
    [721]  »Dr. Maher – sie ist ausgerechnet Dermatologin – schreibt
folgendes«, fuhr Leslie fort. »›Wie ich weiß, hast Du Emma Oastler
nahegestanden, und ich habe gelesen, daß Du ihren Roman Die
Schundleserin zum Filmdrehbuch umarbeitest. Ich wünsche Dir damit und
mit Deinen anderen Projekten viel Glück. Der Roman gehört zu meinen
Lieblingsbüchern, und das nicht nur wegen des Namens der Hauptfigur. Mit besten
Grüßen und Glückwünschen zu Deinem beträchtlichen Erfolg als Schauspieler.‹
Tja, das ist alles«, sagte Mrs. Oastler seufzend. »Der Brief ist
maschinegeschrieben – wahrscheinlich hat ihn jemand anders getippt. Sie hat
bloß mit ›Michele‹ unterschrieben. Auf Geschäftsbriefpapier – so eine Art
Ärztehaus im Mount Auburn Hospital in Cambridge, Massachusetts. Wenn ich mir’s
recht überlege, ist der Brief doch nicht so interessant; es steht eigentlich
nichts Persönliches drin. Wer ihn liest, käme nicht im Traum darauf, daß sie
dich kennt.«
    Leslie hielt den Brief auf Armeslänge von sich – nicht direkt wie
ein Stück schmutzige Wäsche, aber doch wie etwas potentiell Schlechtes, etwas,
wovon sie spürte, daß Jack es haben wollte. »Kann ich den Brief bitte sehen?«
fragte er.
    »Es ist nicht die Sorte Brief, die man
beantworten muß, Jack.«
    »Gib mir den Scheißbrief, Leslie!«
    »Vermutlich war es kein lustiger Scherz – daß Emma Michele Mahers
Namen verwendet hat«, sagte Mrs. Oastler. Sie zwang ihn, nach dem Brief zu
greifen und ihn ihr aus der Hand zu nehmen.
    Das Briefpapier war gebrochen weiß, fast cremefarben – von hoher
Qualität. Der himmelblaue Briefkopf war in einer großen, klaren Schriftart
gedruckt – Grotesk. Nichts Persönliches daran, wie Leslie festgestellt hatte.
»Mit besten Grüßen« vermittelte nicht gerade viel Wärme oder Zuneigung.
    »Wenn ich es mir recht überlege, ist es eher eine kurze Mitteilung
als ein Brief«, sagte Mrs. Oastler, während Jack Micheles [722]  hingekritzeltem,
fast unleserlichem Namenszug irgendeinen Hinweis auf ihre wahren Gefühle für
ihn zu entnehmen suchte. »Ich persönlich fasse nur ungern etwas an, was ein
Dermatologe in der Hand gehabt hat«, fuhr Leslie fort. »Aber ihr Brief liegt
hier schon so lange herum – du glaubst doch nicht, er könnte noch immer
ansteckend sein, oder?«
    »Nein, glaube ich nicht«, sagte Jack.
    Der Brief begleitete ihn an die Nordsee; Jack las ihn jeden Tag. Er
war davon überzeugt, daß er diesen distanzierten, unbeteiligten, ja lieblosen
Brief für immer aufheben würde – denn er wußte, daß
es vielleicht der einzige Kontakt war, den er jemals wieder mit Michele Maher
haben würde.
    Jack bekam keinen Direktflug nach Kopenhagen. Nach seinem Abflug
aus Toronto am frühen Abend hatte er frühmorgens in Amsterdam einen
Anschlußflug mit KLM . Als es Zeit für ihn war,
zum Flughafen zu fahren, nahm Mrs. Oastler gerade ein Bad. Jack dachte daran,
ihr auf dem Küchentisch einen Zettel zu hinterlassen, aber Leslie hatte andere
Vorstellungen.
    »Wage es ja nicht, dich davonzumachen, ohne mir einen Abschiedskuß
zu geben, Jack!« hörte er sie aus dem Bad rufen. Sie ließ die Tür stets offen –
die zu ihrem Schlafzimmer normalerweise auch.
    Sie waren über eine Woche lang allein zusammen im Haus gewesen,
nachdem die Biker gefahren waren. Aber es hatte keine nächtlichen Besuche
gegeben, keinen einzigen Gang über den Flur. Es hatte nicht nur kein
Penis-Halten, sondern im Beisein des anderen auch keine Nacktheit oder
Fast-Nacktheit gegeben. Vielleicht hatte Alice ein bißchen zu sehr gewollt, daß
er und Leslie miteinander schliefen. Trotz der starken Anziehung, die zwischen
ihnen bestand, glaubte Jack, daß er und Mrs. Oastler sich noch immer seiner
Mutter widersetzten; vielleicht, dachte er, hatten die Schwestern Skretkowicz
den Bann gebrochen.
    [723]  Ein Abschiedkuß jedenfalls war eindeutig angebracht. Jack stapfte
pflichtschuldig nach oben. Er bemühte sich, die auf Mrs. Oastlers ungemachtes
Bett geworfene schwarze Unterwäsche nicht zu beachten. In der Badewanne war
über den Schaumbadwolken nur Leslies wachsames Katzengesicht zu sehen.
    »Du

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