Bis ich dich finde
kommst mir nicht davon, Jack«, sagte Mrs. Oastler. »Emma und
Alice haben mich verlassen. Du verläßt mich nicht auch, oder?«
»Nein, ich verlasse dich nicht«, antwortete er so neutral wie
möglich. Sie spitzte ihren kleinen Mund und schloß die dunklen Augen. Jack
kniete sich neben die Badewanne und küßte sie ganz leicht auf die Lippen. Ihre
Augen gingen auf, ihre Zunge glitt in seinen Mund. Mit ihrer seifigen Hand
packte sie sein Handgelenk und zog seine Hand in die Badewanne, so daß sein
Hemdsärmel naß wurde. Falls Jack hätte raten müssen, wo seine Finger sie unter
Wasser berührten, hätte er gesagt, daß er mit Mrs. Oastlers Rose von Jericho in
Kontakt kam, ehe er die Hand wegziehen konnte.
Der Kuß dauerte noch ein bißchen. Nach allem, was sie durchgestanden
hatten, wollte Jack ihre Gefühle nicht verletzen. Er versuchte, Leslie seinen
Unmut über sie nicht spüren zu lassen, aber er war gereizt, weil er sein Hemd
würde wechseln müssen.
Als Schauspieler hatte ihn Mrs. Oastler nie sonderlich hoch
geschätzt; sie konnte sein Gesicht stets deuten, wahrscheinlich weil sie ihn
schon als Kind gekannt hatte. »Nun hör aber auf, Jack. Ich bin vielleicht nicht
Michele Maher, aber so schlecht war der Kuß auch wieder nicht.«
»Ich muß mein Hemd wechseln«, sagte Jack, der hoffte, daß sie seine
Erektion nicht bemerkte. Er achtete darauf, ihr den Rücken zuzukehren, während
er zur offenen Badezimmertür hinausging, und fügte hinzu: »Nein, er war
überhaupt nicht schlecht.«
»Denk dran!« rief Leslie ihm nach. »Es ist das, was deine Mutter
wollte.«
[724] Diesen Gedanken nahm Jack Burns mit nach Kopenhagen; er fühlte
sich schwerer an als der Koffer voller Wintersachen. Jack stieg im Hotel
d’Angleterre ab – diesmal nicht in der Unterkunft der Zimmermädchen, sondern in
einem Zimmer mit Blick auf den Platz mit der Statue. Sowohl die Statue als auch
der Bogen darüber waren kleiner, als er sie in Erinnerung hatte, aber Nyhavn
war vertraut – die auf dem kabbeligen Wasser des grauen Kanals schaukelnden
Boote, der von der Ostsee her wehende Wind. Was seine Äußerung gegenüber der
Skretkowicz-Schwester anging, hatte Jack richtig vermutet: Es regnete.
Beim Auspacken fand er die Fotos von der tätowierten Brust seiner
Mutter. Mrs. Oastler hatte sie mit Bedacht oben auf seine Kleidung gelegt; zwei
hatte sie selbst behalten, zwei hatte sie ihm gegeben, was ihm fair erschien.
Jack war froh, daß er sie hatte – nicht nur zum Zweck der Verifizierung. Seine
Mutter hatte ihn über so vieles belogen; vielleicht war ihr Bis
ich dich finde gar kein Tatovør-Ole, obwohl sich Jack dessen ziemlich
sicher war.
Das Studio am Nyhavn 17 hieß immer noch Tatovør-Ole. Einige von den
Motiven an der Wand stammten von Ole, und in dem kleinen Studio roch es noch
immer nach Rauch und Äpfeln, Alkohol und Hamamelisextrakt; einige der Farben
hatten ebenfalls besondere Düfte, die Jack aber nicht einordnen konnte.
Der Chef war Bimbo. Er war 1975 gekommen und hatte bei Tatovør-Ole
gelernt. Bimbo war klein, kräftig gebaut und trug eine marineblaue Strickmütze.
Seine Flashs ähnelten stark denen von Ole. Ein Seemann – ein alter Hase, hätte
Matrosen-Jerry gesagt. Wie Ole hätte sich Bimbo niemals als Künstler
bezeichnet. Er war ein Tätowierer der alten Schule, ein Mann nach Tochter
Alice’ Herzen.
Bimbo arbeitete an einem gebrochenen Herzen, als Jack hereinkam. Nichts ändert sich wirklich, dachte Jack. Bimbo blickte
nicht von seiner im Werden begriffenen Tätowierung auf. »Jack Burns«, sagte er,
als hätte er ihn erwartet; es war nicht der [725] begeisterte Ton, in dem Mr.
Ramsey Jacks Namen sagte, aber es klang auch nicht unfreundlich. »Als ich
gehört habe, daß deine Mutter gestorben ist, habe ich mir schon gedacht, daß du
kommen würdest«, sagte Bimbo.
Der Junge, der das gebrochene Herz bekam, wirkte verschreckt. Unter
der geröteten Brust konnte man sein richtiges Herz schlagen sehen. Der gezackte
Riß durch sein tätowiertes Herz verlief waagerecht; das verwundete Organ lag
auf einer einzelnen Rose, einer echten Schönheit. Es war eine sehr gute
Tätowierung. Über die untere Hälfte des Herzens zog sich ein entrolltes Banner
– bloß ein Banner ohne Namen darauf. Falls der Junge klug war, würde er warten
und den Namen erst einsetzen lassen, wenn er jemanden kennenlernte, der ihn
heilen konnte.
»Warum hast du gedacht, daß ich kommen würde?« fragte Jack.
»Ole hat immer gesagt, du
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