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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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mir erzählt, daß er deine Mutter tätowiert hat.«
Das war alles, was Jack an Verifizierung brauchte.
    Fast alles an dem kleinen Studio wirkte unverändert; sogar das Radio
lief, wenn auch nicht dasselbe Radio. Doch Bimbo sah das [728]  anders. Als Jack
nach der Türklinke griff, sagte Bimbo: »Heute ist alles anders. Ende der
Sechziger, Anfang der Siebziger konnte man jedermanns Arbeit erkennen. Die
Arbeit, die man gemacht hat, war eine Art Markenzeichen. Aber das war mal,
heute gibt es zu viele Picker.« Jack nickte. (Er hatte seine Mutter das gleiche
sagen hören – alle älteren Tätowierer sagten das.)
»Vor zwanzig Jahren«, sagte Bimbo, »haben hier jeden Tag zwei Schiffe
festgemacht. Mittlerweile kommt nur noch eins«, sagte er, als wäre damit
absolut alles definiert, was anders war.
    »Nochmals danke«, sagte Jack.
    Es war ein nasser, windiger Nachmittag. In den Restaurants am Nyhavn
wurde schon gekocht. Jack konnte noch immer die Gerüche unterscheiden: das
Kaninchen, die Rehkeule, die Wildente, den gebratenen Steinbutt, den gegrillten
Lachs, sogar das zarte Kalbfleisch. Er roch die Früchte in den Wildsaucen und
die kräftigen dänischen Käsesorten. Doch das Restaurant, in das Ole und
Herzensbrecher ihn und seine Mutter zum Abschiedsessen ausgeführt hatten,
konnte er nicht finden. Es hatte einen offenen Kamin gehabt, und Jack meinte,
er habe Kaninchen gegessen.
    Ein Lokal namens Cap Horn, Nyhavn 21, wirkte vage vertraut, aber
Jack ging nicht hinein. Er hatte keinen Hunger und konnte es kaum erwarten,
Fischmann-Madsen zu finden. Ganz bestimmt erwartete ihn Herzensbrecher, genau
wie Bimbo – ja eigentlich noch mehr als dieser, stellte sich Jack vor. Und wenn
sich Lars Madsen das »Daughter Alice« auf seinem gebrochenen Herzen hatte
überdecken lassen, dann wußte er etwas, was Jack nicht wußte, und es mußte ihm
weh getan haben.
    Herzensbrecher Madsen war immer noch blond und blauäugig; er
hatte auch noch das gleiche zahnlückige Lächeln und die gleiche kaputte Nase.
Daß er die schüttere Gesichtsbehaarung losgeworden war und ein bißchen
zugenommen hatte, freute Jack. [729]  Der Fischmann ging auf die Fünfzig zu, sah
aber jünger aus. Wie es schien, war ihm das Fischgeschäft trotz seiner früheren
Befürchtungen gut bekommen – als hätte sich Alice’ Zurückweisung positiver für
ihn ausgewirkt, als er erwartet hatte, und als hätte sein Scheitern in der Welt
des Tätowierens ihm irgendwie seine Unschuld bewahrt.
    Herzensbrecher war mittlerweile verheiratet; er und seine Frau
hatten drei Kinder. »Erinnerst du dich noch an Elise?« fragte er Jack verlegen.
    »Ich erinnere mich noch, wie ich ihren Namen überdeckt habe«, sagte
Jack.
    Elise war der Name, den er auf Lars’ rechtem Knöchel überdeckt
hatte. Sie war seinerzeit mit den Gliedern einer Kette verschränkt gewesen, die
Jack mit einem Stechpalmenzweig, seinem Markenzeichen, unkenntlich gemacht
hatte. (Das Ergebnis hatte an ramponierten Weihnachtsschmuck erinnert –
»Anti-Weihnachts-Propaganda«, hatte Ole es genannt.)
    »Tja, sie ist wiedergekommen, Jack«, sagte Herzensbrecher-Madsen
lächelnd. »Elise war nun mal nicht endgültig zu überdecken.«
    Obwohl es zu regnen aufgehört hatte, war es immer noch zu naß und zu
windig, um draußen an den Tischen auf dem Bürgersteig zu sitzen, doch vom
Fischgeschäft aus bot sich ein recht schöner Blick über die feuchten
Pflastersteine auf das graue Schloß, das heutige Parlamentsgebäude.
    »Manchmal warst du mein Babysitter«, begann Jack.
    »Ich dachte, sie arbeitet länger, Jack. Ich habe nicht gewußt, daß
sie sich mit dem Jungen trifft – ich schwör’s.«
    »Mit welchem Jungen?«
    »Mit diesem armen kleinen Jungen«, sagte Lars.
    »Stopp«, sagte Jack. » Welcher kleine
Junge?«
    Herzensbrecher-Lars sah sehr bekümmert aus. »Ole hat gesagt, daß das
passieren würde!« stieß er hervor.
    [730]  » Was würde
passieren?«
    » Das – daß du mich findest!« sagte Madsen.
»Okay, okay. Fangen wir damit an, Jack. Wie schwer war es, mich zu finden?«
    »Nicht besonders«, sagte Jack zu ihm.
    »Jemanden zu finden ist nicht schwer, Jack – fangen wir damit an.
Deine Mutter hat nie nach deinem Vater gesucht. Sie hatte ihn schon gefunden,
bevor sie hierherkam. Verstehst du?«
    »Ja, ich verstehe«, sagte Jack. »Es ging gar nicht darum, ihn zu
finden, richtig?«
    »Richtig – das siehst du richtig«, sagte Herzensbrecher. »Okay,
okay«, wiederholte er. Jack wurde klar, daß

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