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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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durch seine Mutter verstanden hatte,
und wie Ingrid Moe zu ihr gekommen war, um sich tätowieren zu lassen – daß
Ingrid ein gebrochenes Herz gewollt und Alice ihr ein intaktes gestochen hatte.
Aber wieso hatte Alice überhaupt darauf bestanden, mit Ingrid Moe zu reden, und
welche Informationen über seinen Vater hätte sie von Ingrid oder Andreas denn
bekommen können? Sein Vater war nicht weggelaufen. Alice hatte nicht versucht,
William zu finden. Was hatte es über William zu wissen gegeben, das Alice nicht
bereits gewußt hatte?
    Beim Erzählen dieser Geschichte war
Andreas Breivik weniger großspurig; er war nicht stolz darauf, und es fiel ihm
nicht leicht, sie zu erzählen. Aber das Muster, das Jack bisher nicht begriffen
hatte, war im Grunde ziemlich simpel.
    Überall, wo Jack und seine Mutter nach ihrem Aufenthalt in
Kopenhagen hingingen, trafen sie vor seinem Vater
ein. Alice rechnete nicht nur damit, daß William ihnen folgen würde – ihr war
ja bekannt, wie sehr ihm daran lag, seinen Sohn zu sehen –, sondern sie wußte
auch jeweils im voraus, wohin William vermutlich als nächstes reisen würde. Man
suchte sich nicht einfach eine Kirche und eine Orgel aus, erfuhr Jack von
Breivik; es brauchte Zeit, solche Vereinbarungen zu treffen. Es gab immer einen
erfahrenen Organisten, bei dem ein vergleichsweise unerfahrener Organist als
nächstes studieren wollte, und die Kirche, an der dieser Mentor spielte, hatte
bei der Auswahl von Schülern ihr eigenes hierarchisches Prozedere.
    Ein Organist unterrichtete nur wenige Schüler, und nur die
begabtesten wurden ausgewählt. Wegen der vielen Noten, die auf einer Orgel zu
spielen waren, mußte man unbedingt vom Blatt spielen können. Schüler mit sehr
beschränktem Repertoire oder solche, die bestimmte wesentliche Komponisten nicht
mochten, [751]  wurden im allgemeinen abgewiesen; die meisten jüngeren gingen einem
auf die Nerven, weil sie nur laute oder spektakuläre Musik üben wollten.
    »Man mußte mehrere Eisen im Feuer haben«, sagte Andreas Breivik. Er
meinte damit, daß man lange vorausplanen mußte. Wo war der nächste Organist,
bei dem man studieren wollte? An welcher Kirche? Was für eine Orgel gab es
dort? Auf dieser Welt war man zugleich Schüler und Lehrer; als Schüler mußte
man irgendwo hingehen, wo man seinerseits Schüler haben würde. (Nicht allzu
viele, aber genug, um die Miete bezahlen zu können.)
    So funktionierte das Ganze: Als William noch in der Kastelskirken in
Dänemark Orgel spielte, dachte er schon über Schweden nach und darüber, sich zu
Torvald Torén in die Lehre zu begeben, an der Hedvig Eleonora in Stockholm
Orgel zu spielen. Und während er in Stockholm war, plante William schon,
(irgendwann) nach Oslo zu kommen, wo er bei Rolf Karlsen studieren und auf der
Orgel der Domkirke spielen konnte.
    Angefangen in Kopenhagen, tat Alice nichts anderes, als
herauszufinden, welche Eisen im Feuer die heißesten waren – welche Stadt für
William als nächste an der Reihe war. Dann fuhren Jack und seine Mutter
dorthin, und Alice etablierte sich: Sie eröffnete ihr Geschäft und wartete
darauf, daß William eintraf. Dann machte sie sich systematisch daran, die
Beziehungen zu zerstören, an denen William am meisten lag. Als allererstes die
Freundschaften, die er in der Kirche geschlossen haben mochte – womöglich sogar
die zu dem Organisten, der sein Mentor war. Häufiger aber suchte sie sich
leichtere Ziele aus. In Oslo entschied sie sich für die beiden besten Schüler
von William, Andreas Breivik und Ingrid Moe.
    Anders als Jack achtundzwanzig Jahre lang geglaubt hatte, hatte sein
Vater keineswegs Ingrid Moe verführt. Sie war damals sechzehn gewesen und mit
dem jungen Andreas Breivik verlobt. [752]  Die beiden waren schon seit ihrer
Kindheit ein Paar; sie hatten sogar die gleichen Instrumente gespielt, zuerst
Klavier, dann Orgel. Und William schätzte sie als Schüler sehr – nicht nur,
weil sie begabt und fleißig waren, sondern auch, weil sie einander liebten.
(Nachdem er in Karin Ringhof verliebt gewesen war, empfand William Burns große
Achtung vor jungen Musikern, die einander liebten.)
    »Ihr Vater war mehr als ein hervorragender Organist und ein
großartiger Lehrer«, sagte Andreas Breivik zu Jack. »Was ihm in Kopenhagen
passiert war, eilte ihm als Geschichte nach Oslo voraus. Er war bereits eine
tragische Gestalt.«
    »Und dann hat meine Mutter Sie verführt?« fragte ihn Jack.
    Breiviks einst feine und mittlerweile

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