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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einiges an Käse. Alles sehr bescheiden, aber schön.«
Breiviks Stimme verlor sich.
    »Sie waren nie in ihrer Wohnung?« fragte
ihn Jack.
    Breivik schüttelte bekümmert den Kopf. »Es ist ein altes Gebäude,
vier Stockwerke, so um 1875 gebaut. Ein bißchen heruntergekommen, denke ich.
Wie ich Ingrid kenne, hat sie die Originalholzböden dringelassen. Von der
Renovierung hat sie bestimmt einiges selbst gemacht. Sicher haben ihr die
Kinder geholfen.«
    »Wie alt sind ihre Kinder?« fragte Jack.
    »Die Tochter ist die ältere«, sagte Breivik. »Sie lebt mit einem
Mann zusammen, den sie an der Universität kennengelernt hat, aber die beiden
haben keine Kinder. Sie wohnt in einem Viertel namens Sofienberg. Das ist eine
bei jungen Leuten sehr beliebte und als schick geltende Gegend. Sie kann im
Trondheimsveien in die Bahn einsteigen und ist in ungefähr zwanzig Minuten bei
ihrer Mutter; mit dem Fahrrad würde sie zehn bis fünfzehn brauchen. Wenn sie
Kinder hätte, würde sie wahrscheinlich aus der Stadtmitte wegziehen wollen –
nach Holmlia vielleicht, eine bezahlbare Gegend, wo es immer noch fast so viele
Norweger wie Ausländer gibt.«
    »Und Ingrid hat auch einen Sohn?« fragte Jack.
    »Der Junge studiert an der Universität in Bergen«, sagte Andreas
Breivik. »Er besucht seine Mutter nur in den Semesterferien.«
    Nach diesem Gespräch war Breivik ihm ein wenig sympathischer. Jack
war kurz davor, ihm zu sagen, daß er nach dem [758]  Besuch bei Ingrid wiederkommen
werde – daß er ihm Ingrids Wohnung beschreiben werde, damit der Organist sich
Ingrids private Welt ebenso obsessiv ausmalen konnte, wie er sich den Rest
ausgemalt hatte. Aber das wäre grausam gewesen. Wahrscheinlich war Andreas gar
nicht bewußt, daß er seine ehemalige Freundin regelrecht zum
Forschungsgegenstand gemacht hatte.
    Ingrid Moe war sechzehn gewesen, als Jack die Tätowierung auf ihrer
linken Brust mit einem Stück Mull abgedeckt hatte, das mit Vaseline bestrichen
war. Er erinnerte sich daran, daß er gewisse Schwierigkeiten gehabt hatte, das
Heftpflaster auf ihrer Haut festzukleben, weil sie vor Schmerzen noch immer
schwitzte.
    »Hast du das schon einmal gemacht?« hatte Ingrid gefragt.
    »Klar«, hatte Jack gelogen.
    »Nein, hast du nicht«, hatte sie gesagt. »Jedenfalls nicht an einem
Busen.«
    Als er ihr den Mull auf der Haut festgehalten hatte, hatte er die
Hitze ihrer Tätowierung spüren können – ihr heißes Herz, das ihm durch den
Verband hindurch die Hand verbrannte.
    Wie Andreas Breivik dürfte Ingrid Amundsen inzwischen um die
fünfundvierzig sein.
    »Was für ein Verlust!« rief Andreas plötzlich zu Jacks Verblüffung
aus. »Sie hatte so lange Finger – genau richtig zum Orgelspielen. Klavier «, sagte Breivik verächtlich. »Was für ein Verlust !«
    An die langen Arme und die langen Finger konnte sich Jack noch
erinnern. Ebenso an den dicken blonden Zopf – wie er ihr über den kerzengeraden
Rücken fiel und fast bis zum Kreuz reichte. Und an ihre kleinen Brüste –
besonders die linke, wo er den Verband aufgelegt hatte.
    Beim Sprechen hatte Ingrid Moe (mittlerweile Amundsen) die Lippen
zurückgezogen und die zusammengebissenen Zähne [759]  gebleckt; ihre Halsmuskeln
waren angespannt gewesen, und sie hatte den Unterkiefer vorgeschoben, als
wollte sie ausspucken. Es war tragisch, hatte er damals gedacht, daß eine so
schöne junge Frau so urplötzlich verwandelt werden und der gar nicht so simple
Akt des Sprechens sie häßlich machen konnte.
    Jack fürchtete sich ein wenig davor, sie wiederzusehen. »Das Mädchen
ist eine richtige kleine Herzensbrecherin«, hatte seine Mutter vor
achtundzwanzig Jahren gesagt.
    »Du hast die Augen und den Mund deines Vaters«, hatte Ingrid ihm
zugeflüstert, aber ihre Sprachbehinderung hatte ihr Flüstern verunstaltet.
(»Mund« hatte sie so ausgesprochen, daß das entstellte Wort sich auf »Wind«
reimte.) Und Jack hatte geglaubt, er würde in Ohnmacht fallen, als sie ihn
küßte. Als ihre Lippen sich geöffnet hatten, waren ihre Zähne an seine
gestoßen; er wußte noch, daß er sich gefragt hatte, ob ihre Sprachbehinderung
ansteckend sei.
    Hatte sie ein Problem mit ihrer Zunge? Aber vielleicht war mit ihrer
Zunge auch alles in Ordnung. Jack hatte Andreas Breivik nicht nach der Ursache
von Ingrids Sprachbehinderung gefragt; natürlich hatte er auch nicht die
Absicht, Ingrid zu fragen.
    Als Jack sie vom Bristol aus anrief, hatte er Angst, daß sie ihn
nicht empfangen würde. Warum

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