Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
»Ein Musikstück von Pachelbel vielleicht.«
    »Keine Musik, bloß Text«, sagte Doc. »Vielleicht war es Text aus
einem Lied, aber nicht aus einem Kirchenlied. Keine Kirchenmusik – soviel kann
ich dir sagen.«
    »Erinnerst du dich noch an den Text?« fragte ihn Jack.
    Doc Forests Studio war ebenso ordentlich und gepflegt wie der Mann
selbst. Matrosen – jedenfalls die guten – mußten Ordnung halten. Doc brauchte
nicht lange, um die Schablone zu finden.
    »Dein Vater war sehr eigen, was seine Tätowierungen anging«, sagte
Doc Forest. »Er wollte mich nicht auf seine Haut schreiben lassen. Er hat
gesagt, er will erst meine Handschrift auf einer Schablone sehen. Und ganz
besonders eigen war er bei der Zeichensetzung.«
    [745]  Doc Forests Kursivschrift war gleichmäßig und klar. Die
Tätowierer, die Jack kennengelernt hatte, hatten alle eine ausgezeichnete
Handschrift. Die Schablone war ein bißchen angestaubt, aber Jack hatte keine
Mühe, den Text mit der besonders eigenen Zeichensetzung zu lesen.
     
    Die Tochter des Kommandanten; ihr
kleiner Bruder
    »Das erste Mal, daß ich so eins gemacht habe«, sagte Doc und
deutete auf das Semikolon.
    »Das ist kein Lied. Eher so was wie eine Geschichte«, sagte Jack zu
ihm.
    »Deinem Vater hat es jedenfalls gefallen. Die Tätowierung meine
ich.«
    »Woher weißt du das?« fragte Jack.
    »Er hat gar nicht mehr aufgehört zu weinen«, sagte Doc Forest.
    Bei einer Tätowierung, entsann sich Jack an die Worte seiner Mutter,
war das manchmal das Zeichen, daß man das Richtige getroffen hatte.

[746]  28
    Die falsche Tätowierung
    Die Erinnerung eines Kindes ist nicht nur ungenau – sie
ist auch in chronologischer Hinsicht nicht verläßlich. Nicht nur »erinnerte«
sich Jack an Dinge, die niemals geschehen waren; sondern er irrte sich
überdies, was die Reihenfolge von Ereignissen anging, und das betraf auch
mindestens eine Sache, die tatsächlich passiert war. Als Jack und seine Mutter
im Hotel Bristol zum Essen nach unten gegangen waren, war das nicht ihr erster Abend in Oslo gewesen, sondern ihr letzter.
    Es war auch tatsächlich ein junges Paar in das Restaurant gekommen,
genau wie Jack es in Erinnerung hatte. Er hatte geglaubt, es wäre das erste
Mal, daß er sah, wie seine Mutter auf ein verliebtes Paar reagierte. Der junge
Mann hatte schulterlanges Haar gehabt und sportlich gewirkt; er hatte
ausgesehen wie ein Rockstar, nur war er besser gekleidet gewesen. Tatsächlich
hatte er genauso ausgesehen, wie Doc Forest William Burns beschrieben hatte –
und seine Frau oder Freundin hatte weder den Blick von ihm wenden noch die
Finger von ihm lassen können. (Jack erinnerte sich sogar noch an die Brüste der
jungen Frau.)
    Er entsann sich außerdem, wie er seine Mutter aufgefordert hatte,
sie solle die beiden nach der üblichen Methode zu einer Tätowierung überreden.
»Nein«, hatte sie geflüstert, »die beiden nicht. Ich kann nicht.«
    Kühn hatte Jack die Sache in die eigenen kleinen Hände genommen. Er
war geradewegs zu der schönen jungen Frau hinmarschiert und hatte den Text
gesprochen, den er sich noch heute im Bett vorsagte, um besser einschlafen zu
können. »Haben Sie eine Tätowierung?«
    [747]  Tja, der junge Mann war natürlich Jacks Vater gewesen, doch das
hatte Jack damals nicht gewußt. Alice hatte William einen letzten Blick auf
Jack geboten, ehe sie mit ihm nach Helsinki abreiste. (Wer die junge Frau
gewesen war, wußte Jack nicht – noch nicht.) Niemand – ganz bestimmt nicht
Alice, und am wenigsten William – hatte damit gerechnet, daß Jack sich dem
jungen Paar nähern, geschweige denn es ansprechen würde.
    Was ist los mit dem Kerl? hatte Jack sich gefragt. Der gutaussehende,
langhaarige junge Mann hatte fast den Eindruck gemacht, als bereitete es ihm
Unbehagen, Jack zu sehen; William hatte Jack betrachtet, als hätte er noch nie
ein Kind gesehen. Doch jedesmal, wenn Jack ihn angesehen hatte, hatte William
den Blick abgewandt.
    Und in Williams Stimme hatte eine Bitterkeit gelegen, die Jack
veranlaßt hatte, ihn erneut anzusehen – am deutlichsten, als der junge Vater zu
seinem Sohn gesagt hatte: »Vielleicht ein andermal.«
    »Komm mit, mein kleiner Schauspieler«, hatte Alice ihrem Sohn ins
Ohr geflüstert, und Jacks Vater hatte die Augen geschlossen – er hatte nicht
sehen wollen, wie sein Sohn fortging.
    Erst nachdem Jack im April 1998 im Bristol abgestiegen war – er aß
allein in dem stillen, alten Restaurant –, machte er sich

Weitere Kostenlose Bücher