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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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klar, daß er in
diesem düsteren Raum tatsächlich seinen Vater gesehen hatte.
    »Vielleicht ein andermal«, hatte William gesagt; dann hatte Jack
nach der Hand seiner Mutter gegriffen, und sie war mit ihm weggegangen.
    William hatte ihn sicherlich noch mehrfach zu Gesicht bekommen – in
Helsinki und Amsterdam, keine Frage –, aber es war durchaus möglich, daß dies
Jacks erster und letzter Blick auf seinen Vater gewesen war. Dabei hatte er
nicht einmal gewußt, um wen es sich handelte!
    Doch wer war die junge Frau, und warum hatte William sie [748]  mitgebracht? Waren sie wirklich ineinander verliebt gewesen? William mußte
gewußt haben, daß er seinen Sohn sehen würde; er hatte bloß nicht erwartet, daß
er, Jack, etwas sagen würde. Damit hatte er nicht gerechnet – so wenig wie
Alice. Offensichtlich hatte Jack sie beide überrascht.
    Daß seine Erinnerung an die Begegnung selbst zwar zutraf, er sich
jedoch geirrt hatte, was den Zeitpunkt anging, zu dem sie stattgefunden hatte,
machte ihm zu schaffen und führte dazu, daß er der vermeintlichen Chronologie
der Ereignisse nicht mehr traute. Falls er seinem Vater – ohne zu wissen, daß
es sein Vater war – an seinem und Alice’ letztem und
nicht an ihrem ersten Abend in Oslo begegnet war,
wann hatte seine Mutter dann Andreas Breivik getroffen? Wann hatte sie Andreas
eine Gratistätowierung angeboten? Und wann hatten Jack und Alice die schöne
junge Frau mit der Sprachbehinderung, Ingrid Moe, kennengelernt?
    Jack erkannte die Kathedrale von Oslo, als das Taxi ihn vor dem
Haupteingang des Bristol absetzte, die von Grünspan verfärbte Kuppel, den
großen, wuchtigen Glockenturm. Er beschloß, am nächsten Morgen hinzugehen und
mit dem Organisten zu sprechen. Daß sich dieser als Andreas Breivik entpuppte,
war nicht die einzige Überraschung, die Jack erwartete.
    Inzwischen gab es dort eine neue Orgel – nicht mehr die deutsche
Walcker, die, wie sich Jack erinnerte, hundertzwei Register gehabt hatte.
(Sogar die Orgel, die die Walcker ersetzt hatte, war ersetzt worden.) Mit der
neuen Orgel hatte es eine besondere Bewandtnis, wie Andreas Breivik erklärte.
Falls Breivik sechzehn oder siebzehn gewesen war, als Alice ihn verführt oder
ihm eine unsichtbare Tätowierung gemacht hatte, wie
sie das formuliert haben könnte, so war er nicht einen Tag älter als fünfundvierzig,
als er in der Domkirke mit Jack sprach. Andreas Breivik war eine Art Maestro
geworden, und sein Erfolg hatte ihn großspurig gemacht.
    [749]  Sein gutes Aussehen – blonde Haare, blaue Augen – hatte nicht
überdauert. Als Mann mit feinen Zügen mußte man aufpassen. Breiviks Gesicht war
leicht aufgedunsen; vielleicht trank er. Er hielt Jack einen Vortrag über die
neue Orgel der Kathedrale, die nur einen Monat vor Jacks Ankunft in Oslo
fertiggestellt worden war – von einem in Norwegen lebenden Finnen. (Jack waren
sowohl die Orgel als auch der Finne herzlich egal.)
    Mit grandioser Geste zu dem grün-goldenen Instrument hin, das
geradezu schimmerte, sagte Breivik: »Das haben wir der Beisetzung von König
Olav V. zu verdanken. Januar 1991 – niemals werde
ich das vergessen. Die alte Jørgensen war eine absolute Zumutung. Der
Premierminister persönlich hat darauf bestanden, daß Geld für eine neue Orgel
bereitgestellt wird.«
    »Aha«, sagte Jack.
    Andreas Breivik hatte Kirchenmusik in Stuttgart studiert und das
Orgelstudium in London fortgesetzt. (Für Jack war das unerheblich, aber er
nickte höflich. Breivik hielt sich sehr viel auf seine Bildung zugute, von
seiner Beherrschung des Englischen ganz zu schweigen.)
    »Ich habe natürlich Ihre Filme gesehen – sehr unterhaltsam! Aber Sie
scheinen nicht in die musikalischen Fußstapfen Ihres Vaters getreten zu sein,
um es mal so auszudrücken.«
    »Nein – das bin ich nicht«, sagte Jack. »Ich schlage meiner Mutter
nach.«
    »Sind Sie tätowiert?« fragte Breivik.
    »Nein. Sie?«
    »Um Gottes willen, nein!« sagte Andreas Breivik. »Ihr Vater war ein
begabter Musiker, ein großzügiger Lehrer, ein gewinnender Mensch. Aber seine
Tätowierungen waren ganz allein seine Sache. Wir haben nicht darüber
gesprochen. Ich habe sie nie gesehen.«
    »Mr. Breivik, bitte sagen Sie mir, was passiert ist. Ich verstehe
nicht, was eigentlich passiert ist.«
    [750]  Jack erinnerte sich an die Putzfrau in der Kirche – wie entsetzt
sie gewesen war, ihn und seine Mutter zu sehen. Er entsann sich des wenigen,
das er von der Verführung Andreas Breiviks

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