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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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leicht aufgedunsene Züge
verhärteten sich. »Ich hatte bis dahin nur Ingrid gekannt«, sagte er. »Ein
junger Mann, der erst eine Freundin gehabt hat, ist anfällig für eine ältere
Frau – vielleicht besonders, wenn sie einen gewissen Ruf hat. Ihre Mutter hat
es mir ziemlich unverblümt angetragen. Sie hat gesagt – sie hat mich natürlich
veralbert –: ›Andreas, eigentlich bist du doch bloß eine andere Art von
Jungfrau, stimmt’s?‹«
    »Wo hast du ihn tätowiert?« erinnerte sich Jack seine Mutter gefragt
zu haben.
    »An einer Stelle, die er nie vergessen wird«, hatte sie ihm
zugeflüstert und Andreas dabei angelächelt. (Möglicherweise aufs Brustbein,
hatte Jack sich damals vorgestellt; das würde erklären, warum der junge Mann
unter ihrer Berührung gezittert hatte.)
    »Du solltest den Verband erst morgen abnehmen«, hatte Jack zu
Breivik gesagt, als der junge Orgelstudent sich verabschiedete; es sah so aus,
als täte ihm das Gehen weh. »Es fühlt sich an wie ein Sonnenbrand«, hatte Jack
zu ihm gesagt. »Am besten, du tust ein bißchen Feuchtigkeitscreme drauf.«
    Aber Andreas hatte nichts gewußt. Nachdem er fort war, hatte [753]  Alice geschluchzt: »Wenn er etwas gewußt hätte, hätte er es mir gesagt.«
    Sie hatte damit gemeint, daß Andreas Breivik nicht wußte, welche
Eisen William im Feuer hatte; der Junge hatte keine Ahnung, wo William als
nächstes hinwollte. Aber Ingrid Moe wußte es, und Alice beeilte sich, ihr zu
stecken, daß sie mit ihrem Verlobtem geschlafen hatte. Nie hatte sich Ingrid so
hintergangen gefühlt. Ihre Sprachbehinderung isolierte sie, sie war im Umgang
mit Menschen schon immer schüchtern gewesen. Ingrid konnte Andreas nicht
verzeihen, daß er ihr untreu geworden war. Daß Alice die junge Frau nicht in
Ruhe ließ, war auch nicht gerade hilfreich.
    Jack erinnerte sich an jenen Sonntag, als seine Mutter mit dem
Hemdkarton in die Kirche gegangen war – wie sie am Ende des Gottesdienstes im
Mittelgang gestanden und sich das Stück Pappe mit der Aufschrift INGRID MOE vor die
Brust gehalten hatte. Jack hatte geglaubt, daß an jenem Sonntag Rolf Karlsen
Orgel spielte, weil Karlsen nach einhelliger Meinung ein großer Könner war und
die Orgel besonders gut klang.
    Doch der Organist an jenem Sonntag war William Burns gewesen. Es war
das einzige Mal, daß Jacks Vater für ihn Orgel gespielt hatte, aber Jack hatte
es – ganz ähnlich wie bei der Begegnung im Restaurant des Hotels Bristol –
nicht gewußt, ebensowenig wie sein Vater.
    »Es tut mir leid, daß er Ihnen weh getan hat«, hatte Alice zu Ingrid
Moe gesagt, als die junge Frau ins Hotel gekommen war, um sich ihr gebrochenes
Herz tätowieren zu lassen. Doch der Er war Andreas
Breivik gewesen, der mit Jacks Mutter geschlafen hatte, und nicht, wie Jack
geglaubt hatte, sein Vater: Der hatte niemals mit
Ingrid Moe geschlafen.
    Jack erinnerte sich noch, daß Ingrids zarte Schönheit von der
Anstrengung beeinträchtigt worden war, die sie das Sprechen offensichtlich
kostete. Er verstand sie nicht besonders gut. All die [754]  Jahre hatte er sich
ihre Sprachbehinderung als ein Leiden vorgestellt, das mit dem Küssen
zusammenhing. (Er hatte sich geschämt, als er sich ausgemalt hatte, wie sein
Vater die junge Frau küßte.)
    »Seinen Namen mache ich nicht«, hatte Alice zu Ingrid gesagt.
    »Seinen Namen will ich auch nicht«, hatte die junge Frau geantwortet
und beim Reden die Zähne zusammengebissen, als hätte sie Angst oder wäre
außerstande, ihre Zunge zu zeigen. Sie hatte lediglich ein Herz gewollt, und
zwar ein entzweigerissenes.
    Doch Alice hatte ihr statt dessen ein intaktes Herz gemacht – ein
ganz und gar ungebrochenes, wie Jack sich entsann.
    »Das ist nicht das, was ich wollte!« hatte Ingrid Moe
hervorgestoßen.
    »Das ist das, was du hast: ein Herz. Ein kleines«, hatte Alice zu
ihr gesagt.
    »Ich sag Ihnen gar nichts«, hatte die junge Frau erwidert.
    Sie hatte es statt dessen Jack gesagt – »Sibelius« hatte sie gesagt.
Womit nicht der Komponist, sondern die Musikakademie in Helsinki gemeint war,
an der Williams seine nächsten besten Schüler unterrichten würde. (Neue Schüler
gehörten zu dem, was Andreas Breivik mit Eisen im Feuer meinte.)
    »Ingrid hat das Orgelspielen aufgegeben«, sagte Andreas zu Jack.
»Sie hat sich wieder aufs Klavier verlegt, ohne großen Erfolg. Ich bin bei der
Orgel geblieben. Ich habe mich ständig weiterentwickelt, wie sich das gehört«,
sagte er mit nicht eben geringem

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