Bis ich dich finde
brachte irgend etwas über die Explosion von
Halifax, allerdings erst ein paar Jahre später. Jack bekam es nicht zu sehen.
Er wußte nicht einmal, ob es ein Dokumentarfilm war oder das, was Miss Wurtz
eine Adaption genannt hätte. Er wußte nur, daß Doug McSwiney nichts damit zu
tun hatte. Und nach jener Begegnung in der Bar des Prince George bezweifelte
Jack, daß er jemals mit Cornélia Lebrun zusammenarbeiten würde.
Das Hotel schickte eine Ärztin auf Jacks Zimmer, während Madame
Lebrun sich noch um seine Kopfverletzung kümmerte. Die Ärztin sagte zu Jack, er
habe eine leichte Gehirnerschütterung. So wie der Puls in seiner rechten
Schläfe pochte, hätte er über das leicht mit ihr
streiten können. Sie sagte ihm außerdem, daß er nicht länger als zwei Stunden
am Stück schlafen solle. Sie hinterließ Anweisung am Empfang, ihn alle zwei
Stunden telefonisch zu wecken. Falls er nicht abnehme, müsse jemand in sein
Zimmer gehen und ihn wecken. Und mit der Abreise solle er noch einen Tag
warten, sagte die Ärztin.
In jener Nacht träumte er zwischen den Weckrufen, er befinde sich
auf einem Set. »Ruhe bitte«, sagte jemand zum offenbar hundertsten Mal.
»Kamera läuft.«
»Ton läuft.«
Der Traum machte Jack klar, daß ihm dieser Vorgang fehlte. [922] Vielleicht war es schon zu lange her, daß er einen Film gedreht hatte.
Am anderen Morgen ging Jack auf der Suche nach etwas zu lesen die
Barrington Street entlang. Er fand einen Buchladen, der The Book Room hieß. Der
Besitzer erkannte ihn und lud ihn zu einer Tasse Kaffee ein. Jack erbot sich,
ein paar Bücher zu signieren – was an Exemplaren des Drehbuchs von Die Schundleserin da war. (Emmas Taschenbuchverlag hatte
das Drehbuch herausgebracht. In den meisten Buchläden stand es neben der zum
Film erschienenen Sonderausgabe von Emmas Roman.)
Der Buchhändler hieß Charles Burchell und erwies sich als Enkel von
C. J. Burchell, dem legendären Seerechtsspezialisten, der die juristische
Attacke gegen den Kapitän und den Lotsen der Montblanc angeführt hatte. Als Jack ihm erzählte, daß er glaube, im Gemeindehaus von St.
Paul’s auf die Welt gekommen zu sein, erzählte Charles, die Sakristei der
Kirche sei in den Tagen nach der Explosion zum Notfallkrankenhaus
umfunktioniert worden: An den Wänden hätten sich die Leichen Hunderter von
Opfern gestapelt.
Charles war so freundlich, Jack den Hafen zu zeigen. Jack wollte die
Hochseeterminals sehen, besonders die Pier, wo die Einwanderer an Land gegangen
waren. Charles fuhr ihn außerdem zum Fairview Lawn Cemetery, dem Friedhof. Jack
war neugierig auf das Gräberfeld der Titanic- Opfer.
Halifax hatte seinen Anteil an Katastrophen erlebt.
Jack ging mit Charles zwischen den Gräbern umher.
ERRICHTET ZUM GEDENKEN
AN EIN
UNBEKANNTES KIND
DESSEN STERBLICHE ÜBERRESTE
NACH DEM UNTERGANG DER
TITANIC
[923] GEBORGEN WURDEN
15. APRIL 1912
Es gab noch viele andere.
ALMA PAULSON
ALTER 29 JAHRE
MIT VIER KINDERN VERMISST
Einige waren nur Namen mit Altersangaben.
TOBURG DANDRIA 8
PAUL FOLKE 6
STINA VIOLA 4
GOSTA LEONARD 2
Wieder andere waren nur Zahlen.
GESTORBEN
15. APRIL 1912
227
Die meisten Blumen lagen vor einem kleinen Grabstein mit der
Inschrift J. DAWSON. Große Sträuße ließen ihn
klein erscheinen und verdeckten beinahe den merkwürdig vertrauten Namen.
Charles erzählte Jack, warum der Name vertraut klang. Die Figur, die Leonardo
DiCaprio in dem Titanic -Film spielte, hieß Jack
Dawson.
»Heißt das etwa, es gab ihn wirklich?« fragte Jack.
»Keine Ahnung«, antwortete Charles.
Der J. DAWSON auf dem Grabstein konnte
ein anderer Dawson gewesen sein. Vielleicht war Jack Dawson, die von DiCaprio
gespielte Figur, erfunden. Doch seit der Film angelaufen [924] war, legten
Besucher des Gräberfeldes der Titanic -Opfer Blumen an J. DAWSON s Grabstein nieder, weil sie glaubten,
er sei diese Figur. Schlimmer noch: Ob der Jack Dawson des Films etwas mit dem J. DAWSON auf dem Grabstein zu tun hatte oder nicht –
die jungen Mädchen, die Blumen brachten, glaubten, in dem Grab liege jemand,
der einmal wie Leonardo DiCaprio ausgesehen hatte.
»Kino«, sagte Jack angewidert. Charles
lachte.
Doch plötzlich fiel es Jack wie Schuppen von den Augen: Hier hatte
der Romancier und Drehbuchautor mit der Gesichtsbehaarung die Idee gehabt, die
Explosionskatastrophe von Halifax zu einer Liebesgeschichte zu verwursten. Es
war von vornherein eine schlechte Idee, aber es war noch nicht einmal
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