Bis ich dich finde
Montblanc wird gleich explodieren.
In McSwineys Drehbuch hält sich diese Prostituierte (oder eine
Person, die auf ihr basiert) ein bißchen zu lang in der kühlen Morgenluft auf.
Die Explosion fetzt ihr die Kleider vom Leib, reißt ihr die Perücke vom Kopf
und schleudert sie in die Luft, wobei der Zuschauer sieht, daß es sich bei der
nun nackten und brennenden Prostituierten um einen Mann handelt! Jack Burns,
natürlich – wer sonst?
In der allgemeinen Verwüstung wird der Transvestit, der dabei sein
Gedächtnis verloren hat, ins Krankenhaus eingeliefert. Überall mitleiderregende
Szenen. Wie Bird schreibt: »Zweihundert Kinder, die Oberschwester und sämtliche
dort Beschäftigte kamen ums Leben, als Dach und Wände des Protestantischen
Waisenhauses in der Campbell Road einstürzten. Wer nicht sofort den Tod fand,
verbrannte qualvoll.«
Und der Zuschauer soll Mitgefühl für die von Jack gespielte Figur,
einen Transen-Stricher mit Gedächtnisverlust, empfinden? Trotz der vielen
Frauen und Kinder mit Brandverletzungen entwickelt eine attraktive Schwester
besonderes Mitgefühl für den Transvestiten. Szenen des historischen
Hintergrundes, der sehr kursorisch abgehandelt wird, wechseln mit Szenen von
der langsamen Genesung des unter Gedächtnisverlust Leidenden und der sich
anbahnenden Liebesgeschichte mit der Krankenschwester.
Der Transvestit kann sich nicht mehr erinnern, wer er ist, und schon
gar nicht, warum er kurz nach neun an jenem schicksalhaften Donnerstag nackt
und brennend durch die Luft über die Water Street geschleudert worden ist. Als
er sich soweit [915] erholt hat, daß er das Krankenhaus verlassen kann, nimmt ihn
die Schwester mit zu sich nach Hause.
Dort kommt es dann zu der unvermeidlichen Szene, in der er sein
Gedächtnis wiederfindet. (Wenn man Jack Burns kennt, kann man es kommen sehen.)
Die Krankenschwester ist zur Arbeit gegangen, und er wacht in ihrem
Schlafzimmer auf. Auf einem Stuhl erspäht er eine Schwesterntracht, ihre
Kleider vom Vortag. Er zieht sie an, und als er sich im Spiegel sieht – nun ja,
den Rest kann man sich denken. Haufenweise Erinnerungsschübe! Unziemliches
Verhalten in Frauenkleidung!
Dem Zuschauer wird also eine zweite Version der
Explosionskatastrophe von Halifax aufgetischt. Er bekommt das katastrophale
Leben eines Transen-Strichers vorgeführt, das zu der anderen, der wirklichen
Katastrophe hinführt. Wie Bird anmerkt: »In diesem Augenblick entsetzlichen
Leids waren in Halifax mehr Menschen ums Leben gekommen oder verletzt worden,
als jemals einem einzelnen Luftangriff auf London während des Zweiten
Weltkrieges zum Opfer fielen.« Doch was hatte sich eigentlich Doug McSwiney
gedacht?
Jack haßte Vorbesprechungen zu Filmprojekten, in die er schon mit
der Gewißheit hineinging, daß er das Drehbuch verabscheute, aber die
Regisseurin und die dem Film zugrunde liegende Idee waren ihm sympathisch. Er
wußte, man würde in ihm den lästigen Filmstar sehen, der einem aus schierem
Eigennutz in die Geschichte hineinquasselte – oder, in diesem Fall (und mit
Sicherheit von McSwineys Warte aus), den mit einem Oscar ausgezeichneten
Drehbuchautor (typisches Anfängerglück!), der einem Autor mit McSwineys ungleich
größerer Erfahrung das Schreiben beibringen wollte.
Abgesehen davon, daß Halifax seine Geburtsstadt war, begann sich
Jack zu fragen, was er eigentlich hier verloren hatte – und das schon geraume
Zeit vor der Landung in Nova Scotia, wo er zuletzt vor sechsunddreißig Jahren in utero gelandet war. [916] Vielleicht würde es tatsächlich
zu dem Rückschlag in seiner Therapie führen, vor dem Dr. García gewarnt hatte.
Er stieg im Prince George ab und ließ sich für das Abendessen einen
Tisch in einem nahe gelegenen Restaurant namens Press Gang reservieren. Das
Restaurant lag praktisch gegenüber der Ecke Prince und Barrington, wo William
Burns einst in St. Paul’s die Orgel gespielt hatte. Ganz in der Nähe, Ecke
Argyle und Prince, stand das Gemeindehaus von St. Paul’s, wo die Anglikaner
Jacks schwangere Mutter untergebracht hatten. Vielleicht war es sogar das
Gebäude, in dem Jack (ohne Kaiserschnitt) zur Welt gekommen war.
St. Paul’s war 1750 aus weißen Schalbrettern und Schindeln errichtet
worden. Zum Gedenken an die Explosion hatte man ein Klarglasfenster im ersten
Stock erhalten, ein kaputtes Fenster, das auf die Argyle Street ging. Die
Explosion der Montblanc hatte ein Loch von der Form
eines im Profil gesehenen Menschenkopfes in die
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