Bis ich dich finde
Kirche verfügte.
Jack begann Heather die Geschichte zu erzählen, die er einmal von
seiner Mutter gehört hatte. Eines Nachts habe William kurz vor Mitternacht in
St. Paul’s Orgel gespielt, und zwar bei einem sogenannten Orgelmarathon, einem
vierundzwanzigstündigen Konzert, bei dem die Organisten alle halbe Stunde oder
Stunde wechselten. Williams Spiel habe einen Betrunkenen geweckt, der in einer
der schmalen Gassen neben der Kirche geschlafen habe. Der Penner habe sich in
den unflätigsten Ausdrücken über den Lärm der Orgel beschwert.
An dieser Stelle wurde Jack von Heather unterbrochen: »Die
Geschichte kenne ich. Der Betrunkene hat so was gesagt wie: ›Ist jetzt
vielleicht mal Schluß? Wie soll ich auch nur ein Scheißauge zumachen, wenn
dieses Scheißding von einer Scheißorgel einen Krach macht, daß die Scheißtoten
aus den Gräbern auferstehen.‹ Das ist doch die Geschichte?«
»Ja, so ähnlich«, sagte Jack.
»Ich spiele dir das Stück vor«, sagte Heather. »Außerhalb der Mauern
dieser Kirche kann man nicht viel hören. Entweder die Geschichte ist
übertrieben, oder der Betrunkene hat auf einer Kirchenbank geschlafen. Nicht
einmal Boëllmanns Tokkata [1029] könnte einen Betrunkenen im Carruber’s oder North
Gray’s Close aufwecken.«
Zwar war der Seiteneingang von Old St. Paul’s im Carruber’s Close
geschlossen, doch der Haupteingang in der Jeffrey Street war offen. Die Kirche
war leer, aber die Öllämpchen am Altar brannten. Sie brannten immer, erfuhr
Jack von Heather, auch wenn sie sehr spät nachts noch Orgel spielte. »Nachts
ist es hier ein bißchen unheimlich«, gestand sie, »aber man muß das Spielen im
Dunkeln üben.«
»Wieso?« fragte er.
»Viele interessante Sachen beginnen in der Dunkelheit«, sagte seine
Schwester. »Zum Beispiel die Ostervigil. Man kann lernen, im Dunkeln zu
spielen, vorausgesetzt, man kann die Stücke auswendig.«
Vom Mittelschiff aus, in Richtung Hauptaltar gesehen, reichten die
Orgelpfeifen fast so hoch wie die Buntglasfenster. Die Kirche war nicht groß,
aber dunkel und hermetisch. Man verlor jedes Gefühl dafür, welche Jahreszeit
draußen herrschte, und abgesehen von dem gedämpften Licht, das durch die
Buntglasfenster und Portale drang, auch jedes Gefühl für Tag und Nacht.
Heather sah, daß Jack die lateinische Inschrift am Altar
betrachtete. Wie schon Mr. Ramsey bemerkt hatte, tat sich Jack mit Latein
schwer.
VENITE
EXULTEMOS
DOMINO
»›Kommt, lasset uns dem Herrn frohlocken‹«, sagte seine
Schwester.
»Ja, stimmt«, sagte er.
»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte sie.
Am Altar bekreuzigte sie sich und nahm ihren Rucksack ab. Jack
setzte sich neben sie auf ein Ende der Bank.
»Später spiele ich dir etwas Ruhigeres vor«, sagte Heather. [1030] »Aber
Boëllmanns Tokkata darf nicht leise klingen. Und wenn du ihn spielen hörst, klingt es noch lauter. Eine andere Kirche«, sagte sie leise und
schüttelte den Kopf.
Jack war nicht darauf gefaßt, wie ihre Hände auf die Tastatur
herabfuhren und sie sich verwandelte. Es war das lauteste, durchdringendste
Stück Musik, das er je in einer Kirche gehört hatte. Während die neuen Akkorde
sich aufeinandertürmten, hallten die vorangegangenen weiter nach: Die Orgelbank
bebte. Es war der Soundtrack zu einem Vampirfilm – eine gruselige
Verfolgungsszene.
»Herr des Himmels!« sagte Jack, der ganz vergessen hatte, daß er
sich in einer Kirche befand.
»Eben«, sagte Heather. Sie hatte aufgehört zu spielen, doch Old St.
Paul’s hallte immer noch nach. »Jetzt geh nach draußen und sag mir, ob du es
hören kannst.« Erneut begann sie den Boëllmann. Die Klänge machten ihm
Herzrasen.
Er verließ die Kirche durch den Haupteingang und ging den North
Gray’s Close entlang Richtung Royal Mile. Die Gasse war schmutzig, es roch nach
Urin und Bier. Auf dem Boden lagen Glasscherben von Flaschen, die an der
Kirchenwand zerschmettert worden waren, und alles war mit leeren
Zigarettenpäckchen und Kaugummipapier übersät. In der Mitte der Gasse drückte
Jack das Ohr an die Kirchenmauer. Er hörte den Boëllmann gerade so laut, daß er
der Melodie folgen konnte.
Auf der Royal Mile hörte man die Orgel überhaupt nicht – wahrscheinlich
lag es am Verkehrslärm oder an anderen Straßengeräuschen –, und im Carruber’s
Close rauschte entweder die Klimaanlage eines Restaurants oder der Dunstabzug
einer Küche so laut, daß man der Tokkata nicht folgen konnte. Die Orgel war nur
noch ein
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