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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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fernes, zeitweise aussetzendes Murmeln. Doch als Jack in die Kirche
zurückkehrte, war der Klang der Father Willis ohrenbetäubend. Seine Schwester
legte sich wirklich mächtig ins Zeug.
    [1031]  Wie Heather gesagt hatte, war die Geschichte mit dem Betrunkenen
übertrieben worden – oder aber der Penner hatte auf einer der Kirchenbänke
geschlafen, als der Boëllmann über ihn hereingebrochen war. Wichtiger sei, so
Heathers Schlußfolgerung, daß William Burns die Tokkata so laut gespielt hatte,
daß sämtliche Kirchenbesucher, auch Alice und der Organist, der als nächster
dran war, aus der Kirche in den Regen hatten flüchten müssen.
    »Das war einer von Daddys manischen Momenten«, sagte Jacks
Schwester. »Ich glaube, darum geht es eigentlich in der Geschichte. Er hat
deine Mutter sozusagen in den Regen hinausgetrieben, stimmt’s?«
    »Er ist manisch-depressiv?« fragte Jack.
    »Nein, er hat eine Zwangsneurose«, sagte Heather, »aber er hat seine
manischen Momente. Hast du die etwa nicht, Jack?«
    »Doch, wahrscheinlich schon«, sagte er.
    Heather spielte jetzt leiser. Sie war von Boëllmann zu etwas anderem
übergegangen. »Das ist aus einer Arie aus Händels Solomon «,
sagte sie genauso leise, wie sie spielte.
    »Hast du auch manische Momente?« fragte Jack sie.
    »Den Wunsch, dir nie mehr von der Seite zu weichen, den Wunsch, dich
nie wiederzusehen«, sagte seine Schwester. »Den Wunsch, dein schlafendes
Gesicht neben meinem Gesicht auf dem Kissen zu sehen, und wie du morgens, wenn
ich neben dir liege, die Augen aufschlägst – dich einfach nur anzusehen und darauf
zu warten, daß du aufwachst. Ich rede nicht von Sex.«
    »Ich weiß«, sagte er.
    »Den Wunsch, mit dir zusammenzuleben, nie wieder von dir getrennt zu
sein«, fuhr Heather fort.
    »Ich verstehe.«
    »Den ständigen Wunsch, ich hätte nie von deiner Existenz erfahren
und unser Vater hätte nie ein Wort davon gesagt, daß ich einen Bruder habe –
das in Verbindung mit dem Wunsch, nie [1032]  mehr einen Jack-Burns-Film zu sehen,
und dem Wunsch, sämtliche Szenen in sämtlichen Filmen, in denen du jemals
mitgespielt hast, würden aus meinem Gedächtnis gelöscht, als wären diese Filme
nie gemacht worden.«
    Sie hatte nicht zu spielen aufgehört, aber ihr Tempo hatte sich
beschleunigt. Auch die Lautstärke nahm zu. Heather mußte fast schreien, um die
nachhallenden Klänge zu übertönen.
    »Wir müssen einfach mehr Zeit miteinander verbringen«, sagte Jack.
    Sie ließ beide Hände auf die Tastatur herabsausen, was einen harten
Mißklang erzeugte. Auf der Orgelbank rückte sie an ihren Bruder heran, schlang
ihm die Arme um den Hals und zog ihn an sich.
    »Wenn du ihn einmal besuchst, mußt du ihn immer wieder besuchen,
Jack. Du kannst nicht plötzlich in seinem Leben auftauchen und dann wieder
verschwinden. Er liebt dich«, sagte Heather. »Wenn du diese Liebe erwiderst,
liebe ich dich auch. Wenn du es nicht ertragen kannst, mit ihm zusammen zu
sein, werde ich dich für immer hassen.«
    »Das versteht sich von selbst«, sagte er.
    Sie stieß ihn so heftig von sich, daß er glaubte, sie werde ihn
schlagen. »Wenn du nicht Billy Rainbow bist, dann verschone mich gefälligst mit
seinem Text«, fauchte sie.
    »Okay«, sagte er und streckte die Arme nach ihr aus. Als sie sich
von ihm in die Arme nehmen ließ, küßte er sie auf die Wange.
    »Nein, nicht so – so küßt man seine Schwester nicht«, sagte Heather.
»Du mußt mich auf den Mund küssen, aber nicht so, wie du normalerweise eine
Frau küßt – nicht mit offenen Lippen, sondern so «,
sagte sie und küßte ihn: Ihre trockenen, fest geschlossenen Lippen streiften
die seinen.
    Wer hätte gedacht, daß Jack Burns jemals von einem derart keuschen
Kuß angetan sein würde? Aber er war achtunddreißig und hatte nie zuvor eine
Schwester geküßt.
    [1033]  Sie verbrachten die Nacht zusammen in Jacks Suite im
Balmoral. Sie bestellten sich beim Zimmerservice etwas zu essen und sahen sich
im Fernsehen einen schlechten Film an. In ihrem Rucksack hatte Heather ihre
Zahnbürste, ein extragroßes T-Shirt, das sie als Nachthemd trug, und frische
Kleider für den nächsten Tag mitgebracht. Sie würden früh aufstehen, hatte sie
Jack gewarnt.
    Sie hatte alles geplant, auch die Verwirklichung des Wunsches, von
dem sie Jack in Old St. Paul’s erzählt hatte: sein schlafendes Gesicht neben
dem ihren auf dem Kissen zu sehen, und wie er morgens, wenn sie neben ihm lag,
die Augen aufschlug – ihn einfach

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