Bis ich dich finde
gepflegt werden, sonst verkümmert
es.« Vaaras Stimme klang wie die tieferen Register einer Orgel.
»Wir wissen, daß er nach Amsterdam gefahren ist«, unterbrach ihn
Alice. Sie schien zu fürchten, daß Kari Vaara im Begriff war, eine schreckliche
Wahrheit zu enthüllen, etwas aus der Nicht-wenn-Jack-dabei-ist-Abteilung.
[117] »Nicht einfach nach Amsterdam«, intonierte der Organist. Jack
drehte sich unwillkürlich zu der Walcker-Orgel um und erwartete halb, daß sie
den Refrain dazu spielen würde. »Er wird in der Oude Kerk spielen.«
Die Ehrfurcht, die in Vaaras Stimme mitschwang, blieb bei Jack ohne
Resonanz, doch seine Mutter kannte immerhin den Namen der Kirche.
»Die Orgel dort ist etwas Besonderes, nehme ich an«, sagte sie.
Kari Vaara holte tief Luft, als wollte er gleich wieder den Kopf aus
dem rasenden Zug stecken. »Die Orgel der Oude Kerk ist gewaltig «,
sagte er.
Jack mußte mit den Füßen gescharrt oder sich geräuspert haben, denn
Vaara wandte sich wieder zu ihm. »Ich habe deinem Vater gesagt, daß die größte
Orgel nicht unbedingt die beste ist, aber er ist ein junger Mann und muß seine
eigenen Erfahrungen machen.«
»Ja, er hat schon immer alles selbst herausfinden müssen«,
pflichtete Alice ihm bei.
»Das ist nicht unbedingt schlecht«, sagte Vaara.
»Das ist nicht unbedingt gut«, widersprach Alice.
Kari Vaara beugte sich zu Jack. Der Junge roch die Seife an den
gefalteten Händen des Organisten. »Vielleicht hast du ebenfalls ein Talent für
das Orgelspielen«, sagte Vaara. Er breitete die Arme weit aus, als wollte er
die Walcker umarmen. »Möchtest du einmal spielen?«
»Nur über meine Leiche«, sagte Alice und nahm Jacks Hand.
Sie gingen durch den Mittelgang und verließen die Johanneksen
Kirkko. Gleißendes Sonnenlicht lag auf dem frischen Schnee. »Mrs. Burns!« rief
Vaara ihnen nach. (Hatte sie ihm gesagt, sie sei Mrs. Burns?) »Man sagt, in der
Oude Kerk spielt man für Touristen und Prostituierte.«
»Nicht wenn Jack dabei ist«, sagte Alice über ihre Schulter. [118] Der
Taxifahrer hatte gewartet; ihr nächstes Ziel war das Reedereibüro.
»Ich wollte damit nur sagen, daß die Oude Kerk mitten im
Rotlichtviertel liegt«, erklärte Vaara.
Alice stolperte leicht, doch sie fand ihr Gleichgewicht sofort
wieder und drückte Jacks Hand.
Es gab den Vorschlag, per Schiff nach Hamburg und von dort mit
dem Zug nach Amsterdam zu fahren. Doch das hätte länger gedauert, und Alice
fürchtete, sie könnte in Hamburg bleiben wollen, denn ihr Wunsch, Herbert
Hoffmann kennenzulernen und bei ihm zu arbeiten, war sehr groß. (Vielleicht
wäre sie dann nicht zurück nach Kanada gefahren, Jack wäre nie auf die
St.-Hilda-Schule gegangen, und alles andere wäre auch nicht passiert.) Sie
hatte Hoffmann so viele Postkarten geschrieben, daß Jack die Adresse auswendig
kannte: Hamburger Berg 8. Wenn sie nach Hamburg gefahren wären, wenn sie St.
Pauli und die Reeperbahn und Herbert Hoffmanns Studio am Hamburger Berg 8
gesehen hätten, wären sie dort geblieben.
Doch sie fanden eine Passage auf einem Frachter von Helsinki nach
Rotterdam. (Damals hatten Frachter häufig Passagierkabinen.) Dann fuhren sie
mit dem Zug die kurze Strecke nach Amsterdam. Jack erinnerte sich später an
diese Zugfahrt. Es regnete, und manche Felder standen unter Wasser. Obwohl noch
Winter war, lag nirgends Schnee. Dort draußen sah es aus, als würde es nie
Frühling werden. Alice legte die Stirn an die Fensterscheibe.
»Ist das Glas nicht kalt?« fragte Jack.
»Es fühlt sich gut an«, antwortete sie.
»Vielleicht habe ich Fieber.«
Jack legte ihr die Hand auf die Stirn – sie fühlte sich nicht
besonders warm an. Seine Mutter schloß die Augen und nickte ein. Jenseits des
Mittelganges saß ein Geschäftsmann, der Alice immer wieder ansah. Jack starrte
den Mann an, bis er sich [119] abwandte. Schon mit vier gewann Jack jedes
Blickduell. Er war aufgeregt wegen Tatoeërer-Pieters einem Bein, und er
versuchte sicher auch, sich die Größe dieser gewaltigen Orgel in der Oude Kerk vorzustellen. Aber dann kam ihm eine ganz andere Frage
in den Sinn.
»Mama?« flüsterte er. Er mußte ein wenig lauter sprechen, um sie zu
wecken. »Mama?«
»Ja, mein kleiner Schauspieler«, flüsterte sie, ohne die Augen zu
öffnen.
»Was ist ein Rotlichtviertel?«
Alice sah aus dem Fenster des fahrenden Zuges ins Leere. Als die
Augen ihr wieder zufielen, warf der Geschäftsmann abermals einen verstohlenen
Blick auf sie.
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