Bis ich dich finde
»Tja«, sagte sie mit geschlossenen Augen, »das werden wir schon
herausfinden.«
[120] 6
Gottes heiliger Lärm
Nach
Amsterdam war Alice eine andere Frau – eine Frau, deren ohnehin nur schwach
ausgeprägtes Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl praktisch nicht mehr
existent waren. Jack merkte gewiß, daß seine Mutter sich veränderte – doch er
wußte nicht, warum.
Am Zeedijk, einer im äußersten nordwestlichen Winkel des
Rotlichtviertels gelegenen Straße, befand sich ein Tätowierungsstudio namens De
Rode Draak. Theo Rademaker, der Besitzer, wurde allgemein Tatoeërer-Theo
genannt. In diesem Spitznamen schwang ein gewisser Spott mit, denn in Amsterdam
stand Theo immer im Schatten von Tatoeërer-Pieter.
Rademakers Ruf als zweitrangiger Tätowierer hielt William nicht
davon ab, sich von Tatoeërer-Theo ein enggeschriebenes Fragment eines Chorals
von Samuel Scheidt in einem Bogen über dem Steißbein tätowieren zu lassen. Die
Noten wurden vom Text – »Wir glauben all’ an einen Gott« – teilweise verdeckt.
Es war Williams erste Amsterdamer Tätowierung.
Er ließ sich später auch von Tatoeërer-Pieter tätowieren, der ihm sagte,
Theos Arbeit sei amateurhaft, und dem Musikmann ein Stück von Bachs »Jesu meine
Freude« stach. Tatoeërer-Pieter wollte nicht verraten, an welcher Stelle des
Körpers – nur daß sowohl die Noten als auch der Text gut lesbar waren.
Sein eigentlicher Name war Pieter de Haan, und er war mit einigem
Recht der berühmteste Tätowierer weit und breit. Tatoeërer-Pieters
verschwundenes Bein war eines der quälendsten Geheimnisse von Jacks Kindheit.
Daß seine Mutter ihm nie verriet, [121] wie er es verloren hatte, war ein Geschenk
an Jacks Phantasie. Was Alice am meisten beeindruckte, war die Tatsache, daß
Herbert Hoffmann sich von Pieter de Haan hatte tätowieren lassen und daß die
beiden gute Freunde waren.
Tatoeërer-Pieters Studio lag im Erdgeschoß eines Hauses am St. Olofssteeg
– also hatte William sich zweimal im Rotlichtviertel tätowieren lassen. William
Burns sei ein Mann, der entschlossen sei, sich musikalisch fürs Leben zeichnen
zu lassen, sagte Tatoeërer-Pieter, doch Alice sei durch ihn fürs Leben
gezeichnet.
Im Studio am St. Olofssteeg war es sehr warm, und wenn Pieter einen
Kunden tätowierte, zog er oft sein Hemd aus. Er sagte Alice, das flöße dem
Kunden Vertrauen in seine Fähigkeiten als Tätowierer ein. Jack nahm an, das
solle bedeuten, daß der Kunde gar nicht umhinkönne, Tatoeërer-Pieters eigene
Tätowierungen zu bewundern.
»Wenn das so ist«, sagte Alice, »behalte ich meine Bluse lieber an.«
Auch aus diesem Satz zog Jack einen vollkommen logischen Schluß: Da seine
Mutter keine eigenen Tätowierungen hatte, würde der Kunde möglicherweise jeden
Rest von Vertrauen in ihre Fähigkeiten verlieren.
Pieter de Haan war ein Mann mit heller Haut, birnenförmiger Statur,
einem freundlichen, sauber rasierten Gesicht und schimmerndem, mit Pomade
zurückgekämmtem Haar. Er trug meist eine dunkle Hose und saß so, daß sein Bein
auf den Eingang des Studios zeigte, während der Stumpf des anderen halb
verborgen auf einem Schemel ruhte. Er saß ganz gerade, seine Haltung im Sitzen
war tadellos. Aber Jack sah ihn nie stehen.
Benutzte er Krücken oder zwei Stöcke? Schnallte er sich nach
Piratenmanier ein Holzbein an? Kam und ging er in einem Rollstuhl? Jack wußte
es nicht – er sah Pieter nie kommen oder gehen.
Eines Tages erfuhr Jack, daß Pieter auch seinen Sohn anlernte, aber
später konnte er sich nur an einen einzigen Mann erinnern, [122] der bei Pieter
gelernt hatte, einen unheimlichen Typen namens Jacob Bril. (Vielleicht hatte
Bril einen solchen Eindruck auf Jack gemacht, daß er Pieters Sohn einfach
vergaß.)
Jacob Bril hatte ein eigenes Studio in Rotterdam, das er an den
Wochenenden schloß, um nach Amsterdam zu fahren. Jeden Samstag arbeitete er von
Mittag bis Mitternacht bei Tatoeërer-Pieter. Seine treuen Kunden standen
Schlange, und sie waren allesamt gläubige Christen.
Jacob Bril war klein und drahtig, ein asketisches Gerippe von einem
Mann. Er machte ausschließlich religiöse Tätowierungen, am liebsten
»Auferstehung«. Auf seinem knochigen Rücken konnte man sehen, wie Jesus,
begleitet von Engeln, zum Himmel auffuhr. In Brils Version war der Himmel ein
dunkler, wolkenverhangener Ort, doch die Engel hatten wunderschöne Flügel.
Für die Brust empfahl Bril »Martyrium« – eine Darstellung des
blutenden Hauptes unseres
Weitere Kostenlose Bücher