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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Brüste stach ihm am meisten ins Auge, daß
Hanneles Achselhöhlen unrasiert waren. Sie war eine breitschultrige Frau, deren
Brüste nicht viel größer waren als Ingrid Moes, und das bemerkenswerte Haar
unter ihren Armen war von einem dunkleren Blond als das auf ihrem Kopf. Über
ihrem Nabel war ein Muttermal von der Form Floridas. Es sah aus wie ein
zerdrückter Zylinder und hatte die Farbe eines Weinflecks.
    Als Alice sich mit der Jones an die Konturen machte, spitzte Hannele
die Lippen und begann zu pfeifen. Wegen des Geräusches, das die Maschine
machte, konnte Jack die Melodie nicht gut hören. Hannele hatte sich mit breit
gespreizten Beinen auf die Fensterbank gesetzt. Es war eine höchst undamenhafte
Haltung, aber sie trug Blue jeans und war immerhin Cellistin. Bestimmt saß sie
so, wenn sie Cello spielte.
    Als Jahre später eine nackte Frau für Jack Cello spielte, dachte er
an Hannele und fragte sich, ob sie wohl jemals nackt für William gespielt
hatte. Er schämte sich dafür, einen solchen Augenblick vielleicht mit seinem
Vater zu teilen. Und er verstand, was Hannele für William so attraktiv gemacht
hatte: Sie war zweifellos eine tapfere Frau. Sie fuhr fort zu pfeifen, selbst
als die [110]  Konturen des halben Herzens, das Alice stach, ihre Rippen berührten.
    Während Alice das gebrochene Herz mit der Rogers schattierte, saß
Jack mit der pummeligen Kleinen auf dem Bett. Sie hieß Ritva, sie hatte größere
Brüste als Hannele, und Jack bemühte sich, wach zu bleiben, bis sie an der
Reihe war.
    Er sah wohl müde aus, denn seine Mutter sagte: »Jack, putz dir die
Zähne und zieh deinen Schlafanzug an.«
    Der Junge stand auf und putzte sich am Waschbecken die Zähne. Man
hatte ihm wiederholt gesagt, er solle kein Leitungswasser trinken. Alice hatte
einen Krug mit Trinkwasser auf den Waschtisch gestellt, und damit mußte Jack
sich nach dem Zähneputzen den Mund ausspülen.
    Er zog den Schlafanzug hinter der geöffneten Schranktür an, damit
weder Ritva noch Hannele ihn nackt sehen konnten. Dann ging er wieder zum Bett,
wo Ritva inzwischen die Decke zurückgeschlagen hatte. Jack legte den Kopf auf
das Kissen, und Ritva deckte ihn zu. Man hörte nur das Geräusch der
Tätowiermaschine und Hanneles leises, tapferes Pfeifen.
    »Süße Träume«, sagte Ritva und gab ihm einen Gutenachtkuß. »So sagt
man doch, oder?« fragte sie Alice. »Süße Träume?«
    »Manchmal«, sagte Alice. Jack bemerkte in ihrer Stimme eine
Gehässigkeit, die ihm neu war.
    Vielleicht hatte William immer »Süße Träume« gesagt. Vielleicht war
es etwas, was er sowohl zu Alice als auch zu Ritva und Hannele gesagt hatte,
denn Hanneles tapferes Pfeifen verstummte für einen Augenblick, als wäre der
Schmerz, den das Schattieren auf der Brust und den Rippen verursachte, mit
einemmal unerträglich geworden. Jack nahm an, daß es die Worte »Süße Träume«
gewesen waren, die ihr weh getan hatten, und nicht die Nadeln.
    Der Junge kämpfte gegen den Schlaf an. Ihm fielen die Augen zu, und
er streckte die Hand aus, fühlte Ritvas weichen Pullover [111]  und spürte, wie
sich die Finger ihrer warmen Hand um die seinen schlossen.
    Vielleicht hörte Jack seine Mutter sagen: »Ihr wißt wahrscheinlich
nicht, wohin er gegangen ist.«
    Vielleicht anwortete Hannele, die ihr Pfeifen dafür kurz unterbrach:
»Er hat’s uns nicht gesagt.«
    Jedenfalls hörte Jack genau, daß Ritva zu seiner Mutter sagte: »Daß
Sie und Jack hinter ihm her sind, reicht doch wohl.«
    »›Hinter ihm her‹ hat er gesagt?« fragte Alice.
    »Das hab ich gesagt.«
    »Wir sagen es die ganze Zeit«, bemerkte Hannele.
    »Würdet ihr nicht sagen, daß er für Jack verantwortlich ist?« fragte
Alice die beiden.
    Sie stimmten ihr zu, daß William für Jack verantwortlich sei, doch
es war eines von diesen Helsinki-Gesprächen, die der Junge bestenfalls im
Halbschlaf hörte. Einmal wachte er auf und sah Ritvas hübsches Gesicht auf sich
herablächeln; an ihrem Ausdruck erkannte er, daß sie in seinen noch
unausgebildeten Zügen seinen Vater erblickt hatte. (Noch heute sah er dieses
hübsche Gesicht manchmal im Traum oder beim Einschlafen.)
    Ritvas pummelige Brüste bekam er nie zu sehen; ebensowenig erfuhr
er, ob ihre Achselhöhlen so unrasiert waren wie Hanneles. Als er abermals
aufwachte, sah er Hanneles schlafendes Gesicht auf dem Kissen neben seinem
Kopf. Sie hatte den Rollkragenpullover an, nicht aber den Rentierpullover.
Wahrscheinlich war sie eingeschlafen, während

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