Bis ich dich finde
Heilands mit der Dornenkrone. Christus blutete auch
aus Händen, Füßen und der Wunde an Seiner Seite; laut Bril war das Blut von
entscheidender Bedeutung. Auf seiner Brust hatte Jacob Bril nicht nur das Haupt
des gemarterten Christus, sondern auch einen heiligen Text: das Vaterunser. Auf
Ober- und Unterarmen waren eine Jungfrau Maria, ein Jesuskind, und zwei Maria
Magdalenas, eine mit Heiligenschein, die andere ohne. Die Bauchregion hatte er
sich für die besonders gruselige Figur des Lazarus beim Verlassen seines Grabes
aufgespart. (Alice behauptete, dieser Lazarus sei die Ursache für Brils
chronische Verstopfung.)
Die beiden Maria Magdalenas gaben zu der Hoffnung Anlaß, daß Jacob
Bril ein Mann war, dem es leichtfiel, zu vergeben, insbesondere wenn es um die
Frauen ging, die man in den Fenstern und Hauseingängen des Rotlichtviertels
sah. Aber Bril zeigte deutlich, wie sehr er die Prostituierten mißbilligte. Vom
Hauptbahnhof hätte er zu Tatoeërer-Pieters Studio am St. Olofssteeg gehen
können, ohne eine einzige Prostituierte zu sehen, ja der [123] kürzeste Weg vom
Bahnhof zum Studio führte gar nicht durch das Rotlichtviertel. Aber Bril stieg
stets im Hotel Krasnapolsky am Dam ab. (Damals war das Krasnapolsky ein
ziemlich vornehmes Hotel, sicherlich zu vornehm für Bril.) Und jedesmal, wenn
er zum Hotel ging oder es verließ, lief er mit Bedacht durch alle Straßen des
Rotlichtviertels.
Seine Schritte waren so rasch wie seine Urteile. Zwei Grachten
teilten das Viertel. Bril patrouillierte an ihren Ufern und in sämtlichen
Seitenstraßen. Durch die engsten Gassen, in denen man den Frauen in den
Hauseingängen so nahe kam, daß man sie hätte berühren können, marschierte er im
Eilschritt. Die Frauen, die ihn kommen sahen, gingen hinein. (Jack dachte, das
liege daran, daß Bril einen Luftzug erzeugte.) Eines Tages folgten Jack und
seine Mutter Jacob Bril, als er aus dem Krasnapolsky trat. Sie konnten mit dem
kleinen Mann nicht Schritt halten. Jack hätte rennen müssen, um ihn nicht aus
den Augen zu verlieren.
Nicht nur für Jacob Bril, sondern auch für Alice und Jack war
das Krasnapolsky zu vornehm, doch mit einem billigeren Hotel hatten sie
schlechte Erfahrungen gemacht. Das Hotel De Roode Leeuw lag am Damrak,
gegenüber einem Kaufhaus, wo Jack eines Tages seine Mutter aus den Augen verlor
und fünf oder zehn Minuten nicht finden konnte.
Im Roode Leeuw war Jack fasziniert von einer Ratte, die er im
Billardsalon entdeckt hatte, hinter dem Gestell für die Queues. Wenn er ein
Queue von der Seite in das Gestell steckte und damit stocherte, lief die Ratte
auf der anderen Seite heraus.
Das Roode Leeuw war beliebt bei Vertretern. Ein früherer Gast hatte
in einer der Schubladen des Schreibtischs in Jacks Zimmer ein prall gefülltes
Tütchen Gras zurückgelassen. Jack fand es, als er seine Unterwäsche suchte, und
ersetzte damit das zerbröselte Heu in der Krippe, die seine Mutter ihm in
Kopenhagen zu Weihnachten geschenkt hatte. So lag das Jesuskind auf [124] einem
Lager aus Marihuana, und Maria und Josef, die heiligen drei Könige, die Hirten
und die anderen Krippenfiguren standen knietief nicht in Heu, sondern in Hanf.
Vom Geruch geleitet, entdeckte Alice das Arrangement.
Das Roode Leeuw sei nicht das richtige Hotel für sie, sagte Alice.
Jack sah nicht, wie sie das Marihuana wegwarf. Sie zogen ins Krasnapolsky.
Langsam wurde es für Alice und Jack zur Gewohnheit, in einem Hotel abzusteigen,
das über ihren Verhältnissen lag, auch wenn ein Hotel, in dem Jacob Bril
wohnte, nicht gerade ganz oben auf ihrer Liste stand. Die Ratte im Roode Leeuw
war freundlicher gewesen als Jacob Bril.
Alice und Jack versuchten nur einmal, Bril durch die Straßen des
Rotlichtviertels zu folgen. Er ging nicht nur zu schnell, sondern wußte ihre
Gesellschaft auch nicht zu schätzen. Wenn Alice und Jack zum Studio oder zurück
zum Hotel gingen, spielten sie meist ein Spiel: Sie versuchten, jedesmal einen
etwas anderen Weg zu nehmen. Auf diese Weise lernten sie alle Prostituierten
kennen. Die meisten waren freundlich. Binnen kurzem wußten sie, wie Jack hieß,
und seine Mutter riefen sie bei deren Künstlernamen Tochter Alice.
Die wenigen, die Jack und Alice nicht mochten, machten daraus kein
Hehl. Meist waren es ältere Frauen – für Jack sahen einige von ihnen so alt
aus, daß sie Alice’ Mutter hätten sein können –, aber ein paar der jüngeren
waren ebensokurz angebunden.
Eine von ihnen sprach Alice barsch
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