Bis ich dich finde
sie darauf wartete, daß Ritvas
Herzhälfte fertigwurde. Jack hörte die Maschine, doch seine Mutter verdeckte
ihm die Sicht auf Ritvas Brüste und Achselhöhlen. Über der Schulter seiner
Mutter sah Jack Ritvas Gesicht: Es war schmerzverzerrt, die Augen waren fest
geschlossen.
Hanneles schlafendes Gesicht war seinem sehr nah. Ihre Lippen waren
leicht geöffnet, ihr Atem hatte nicht mehr das fruchtige Aroma des Kaugummis,
sondern roch ein bißchen schal. Ihr [112] Haar verströmte einen süß-säuerlichen
Geruch – wie heiße Schokolade, die zu lange gestanden hat und bitter geworden
ist. Jack wollte sie noch immer küssen. Er schob sein Gesicht näher an ihres
und hielt den Atem an.
»Schlaf weiter, Jack«, sagte seine Mutter. Sie saß mit dem Rücken zu
ihm – er hatte keine Ahnung, woher sie wußte, daß er wach war.
Hannele riß die Augen weit auf, sie starrte Jack an. »Du hast
berückende Wimpern«, sagte sie. »So heißt es doch, oder? Berückend?«
»Manchmal«, sagte Alice.
Ritva unterdrückte ein Schluchzen.
Unter der Decke schoben Hanneles lange Finger das Oberteil von Jacks
Schlafanzug hoch und kitzelten seinen Bauch. (Noch heute spürte er diese Finger
manchmal im Traum oder beim Einschlafen.)
Das Klopfen an der Tür war laut und abrupt und schreckte Jack
aus einem Traum. Es war dunkel. Neben ihm schnarchte seine Mutter und rührte
sich nicht. Der Junge erkannte ihr Schnarchen und wußte, daß es ihre, nicht
Hanneles Hand war, die auf seiner Hüfte lag.
»Mom, da ist jemand an der Tür«, flüsterte Jack, doch sie hörte ihn
nicht.
Wieder klopfte es, lauter als zuvor.
Gelegentlich wurde die Klientel der American Bar es leid, darauf zu
warten, daß Alice zurückkehrte. Irgendein Betrunkener, der sich tätowieren
lassen wollte, kam dann nach oben und hämmerte an die Tür. Alice schickte die
Betrunkenen immer weg.
Jack setzte sich auf und rief mit schriller Stimme: »Zu spät für
eine Tätowierung!«
»Ich will keine Tätowierung!« rief eine wütende Männerstimme.
[113] Seit der Nacht mit dem kleinsten Soldaten von allen hatte Jack
seine Mutter nicht so erschrocken gesehen. Sie fuhr hoch und drückte Jack an
sich. »Was wollen Sie dann?« rief sie.
»Sie wollen doch was über den Musikmann wissen, oder?« antwortete
der Mann. »Ich hab ihn tätowiert. Ich weiß alles über ihn.«
»Sami Salo?« fragte Alice.
»Ich schlage Ihnen eine Abmachung vor«, sagte Salo. »Aber erst
müssen Sie die Tür aufmachen.«
»Einen Moment, Mr. Salo.«
Alice sprang aus dem Bett und zog einen Morgenrock über das
Nachthemd. Dann nahm sie ihre besten Flashs und breitete sie auf dem Bett aus.
Jack lag in seinem Schlafanzug zwischen all den Seemannsmotiven: ein Kind in
einem Bett voller Blumen und Herzen, voller Schiffe mit geblähten Segeln und
halbnackter Frauen in Baströcken. Der Vierjährige lag zwischen Schlangen und
Ankern, zwischen Seemannsgräbern, Rosen von Jericho und Alice’ Version von »Des
Mannes Verderben«. Da war ihr »Schlüssel zu meinem Herzen« und dort ihre nackte
Frau (Rückenansicht) mit Schmetterlingsflügeln, die aus einer Tulpe zum
Vorschein kamen.
Der Junge lag zwischen all diesen Flashs, als wäre er soeben aus
einem Tätowierungstraum erwacht. Alice öffnete die Tür und ließ Sami Salo in
ihre Welt treten. Er war ein Picker, wie sie vermutet hatte, und sie wußte, daß
er den Blick nicht von ihrer weit besseren Arbeit würde wenden können.
»Die Abmachung ist…«, begann Salo, doch dann hielt er inne. Er sah
Jack kaum an, die Flashs nahmen seine Aufmerksamkeit voll und ganz in Anspruch.
Sami Salo war ein abgezehrt wirkender älterer Mann mit einem
hageren, grüblerischen Gesicht. Er trug eine marineblaue Wollmütze, die er tief
über die Ohren gezogen hatte, und eine Seemannsjacke von derselben Farbe. Er
schwitzte, weil er in [114] Wintersachen in die dritte Etage hinaufgestiegen war,
und er atmete schwer. Er sagte kein Wort, sondern starrte auf Alice’ beste
Flashs.
Salos Favorit wäre vielleicht eine Mischung aus Alice’ Rose von Jericho
und ihrem »Schlüssel zu meinem Herzen« gewesen – ein Schlüssel wird waagrecht
an die Brust einer nackten Frau gehalten, und das Schlüsselloch ist
Sie-wissen-schon-wo. (Diese Tätowierung war unter Alice’ nackten Frauen
insofern einzigartig, als sie keine Rückenansicht war.)
Dem verbitterten Gesicht nach zu schließen, war Sami Salo seine
eigene Version von »Des Mannes Verderben«. »Die Abmachung ist…«, half
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