Bis ich dich finde
an. »Das ist keine Gegend für
Kinder«, sagte sie.
»Ihr seid nicht die einzigen, die hier arbeiten«, erwiderte Alice.
Damals waren die meisten Frauen im Rotlichtviertel
Niederländerinnen, auch wenn viele von ihnen nicht aus Amsterdam stammten. Wenn
eine Frau aus Amsterdam Prostituierte werden wollte, ging sie zum Beispiel nach
Den Haag; Frauen aus Den [125] Haag oder anderen Städten kamen nach Amsterdam.
(Weniger Schmach und Schande für die Familie.)
Es war die Zeit, in der viele Familien aus Surinam in die
Niederlande übersiedelten. 1970 sah man immer häufiger dunkelhäutige Frauen im
Rotlichtviertel. Und vor den Surinamerinnen waren Frauen mit etwas hellerer
Haut aus der ehemaligen niederländischen Kolonie Indonesien gekommen.
Eine der dunkelhäutigen Frauen aus Surinam gab Jack ein Geschenk. Am
meisten überraschte ihn, daß sie seinen Namen kannte, obwohl sie sich noch nie
begegnet waren.
Sie saß in einem Fenster, nicht im Rotlichtviertel, sondern entweder
am Korsjespoortsteeg oder in der Bergstraat, wo Alice und Jack nach seinem Vater
fragen wollten. Jack hielt die Surinamerin zunächst für eine Schaufensterpuppe
– sie saß so still, sie war so statuesk –, doch dann kam sie mit einemmal auf
die Straße und gab ihm eine Tafel Schokolade, so dunkel wie ihre Haut.
»Die hab ich für dich aufgehoben, Jack«, sagte sie. Der Junge war zu
verblüfft, um zu antworten. Seine Mutter schimpfte mit ihm, weil er sich nicht
richtig bedankt hatte.
An den meisten Wochentagen waren morgens, wenn Alice und Jack zu
Tatoeërer-Pieters Studio gingen, nicht viele Frauen zu sehen. An den
Wochenenden dagegen begannen sie schon früher mit der Arbeit. Nachts jedoch
brannten alle roten Laternen, und das Viertel wimmelte von Menschen. Dann waren
die Prostituierten, die Jack und seine Mutter mochten, manchmal zu beschäftigt,
um sie mit Namen zu begrüßen oder ihnen auch nur zuzunicken.
Es war noch nicht Frühling, und die Luft war kühl, aber die Frauen
standen oft in den Hauseingängen, anstatt in den Fenstern zu sitzen, denn sie
unterhielten sich gern miteinander. Sie trugen hochhackige Schuhe und kurze
Röcke und tief [126] ausgeschnittene Oberteile, aber zumindest hatten sie etwas
an. Und ihre Freundlichkeit – gegenüber Jack, nicht unbedingt gegenüber seiner
Mutter – ermöglichte es Alice, ihren Sohn über das wahre Wesen der Prostitution
in die Irre zu führen.
Damals gingen nur Männer zu Prostituierten, und Jack fiel auf, daß
es den Männern sehr unangenehm war, dabei gesehen zu werden. Wenn sie das Haus
dann wieder verließen, schienen sie in einer Eile zu sein, die in krassem Gegensatz
zu der Muße stand, mit der sie zuvor durch die Straßen (und vielleicht mehrmals
an der Tür oder dem Fenster einer ganz bestimmten Prostituierten vorbei)
geschlendert waren, bevor sie sich endlich für eine bestimmte Frau entschieden
hatten.
Alice erklärte ihm, das liege daran, daß diese Männer im Grunde
unglücklich und unentschlossen seien. Eine Prostituierte, sagte sie, sei eine
Frau, die Männern Ratschläge gebe, wenn diese Schwierigkeiten hätten, Frauen im
allgemeinen oder eine Frau – möglicherweise ihre Frau
– im besonderen zu verstehen. Die Männer wirkten so schamerfüllt, weil sie
wüßten, daß sie derart wichtige und persönliche Gespräche eigentlich mit ihren
Frauen oder Freundinnen führen sollten, doch dazu seien sie aus unerklärlichen
Gründen nicht bereit oder nicht in der Lage. Sie waren »gehemmt«. Für sie waren
Frauen ein Mysterium, und sie konnten ihr Herz nur einer Fremden ausschütten,
für Geld.
Jack verstand nicht, wer wen bezahlte, bis seine Mutter ihm
erklärte, das seien die Männer. Es sei furchtbar anstrengend, diesen
unglücklichen Männern zuzuhören, sagte sie. Offenbar hatte sie Mitleid mit den
Prostituierten, und darum hatte Jack ebenfalls Mitleid mit ihnen, und offenbar
verachtete sie die Männer, und darum verachtete Jack sie ebenfalls.
Doch Alice’ und Jacks Verachtung war nichts im Vergleich zu Jacob
Brils Verachtung. Sie war geradezu körperlich spürbar und galt sowohl den
Prostituierten als auch deren Kunden. Und sie galt auch Alice und Jack, und
zwar, wie Alice dem Jungen [127] erklärte, weil sie eine unverheiratete Mutter und
er ein uneheliches Kind sei.
Bril nahm auch Anstoß daran, daß Alice Tätowiererin war. Er sagte,
keine anständige Frau würde es zu ihrem Beruf machen, halbnackte Männer zu
berühren. Bril selbst tätowierte Frauen nur
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