Bis ich dich finde
Gefühle.
Trotz mancher Vorbehalte hatte sie Jack hin und wieder mit den
Tätowiermaschinen spielen lassen. Für den Jungen hatten sie Ähnlichkeit mit
Pistolen, auch wenn ihr Geräusch eher dem eines Zahnarztbohrers gleicht und sie
mehr als zweitausend Stiche pro Minute machen können.
Bevor Jack und Alice nach Kopenhagen fuhren, hatte der Junge hin und
wieder an einer Orange oder Grapefruit üben dürfen und einmal auch an einer
Flunder – aber eben nur ein einziges Mal, denn seine Mutter sagte, frischer
Fisch sei teuer. (Die Haut einer frischen Flunder, hatte Aberdeen-Bill seiner
Tochter gesagt, komme in ihrer Beschaffenheit der menschlichen Haut [33] am
nächsten.) Herzensbrecher-Lars aber ließ Jack an seinem Körper üben.
Lars Madsen war etwas jünger als Alice, als Lehrling aber weit
unerfahrener; vielleicht war das der Grund, warum Lars dem Jungen gegenüber so
großzügig war. Nachdem Tatovør-Ole gesehen hatte, was Alice konnte, durfte der
arme Lars nur noch schattieren. Mit wenigen Ausnahmen ließen Ole und Alice ihn lediglich
ihre Konturen füllen, doch bei Herzensbrecher-Madsen durfte Jack die Konturen
stechen.
Es war kühn, ja geradezu leichtsinnig von Lars, einen Vierjährigen
an seine Haut zu lassen. Glücklicherweise beschränkte Jack sich auf den Bereich
von Madsens Knöcheln, wo ein »Picker« (ein schlechter Tätowierer) die Namen
zweier ehemaliger Freundinnen des Herzensbrechers gestochen hatte. Diese
Tätowierungen erwiesen sich nun als hinderlich für sein Liebesleben –
jedenfalls glaubte er das. Der Junge sollte diese Namen überdecken.
Tatsächlich dienen etwa zwanzig Prozent aller Tätowierungen dazu,
ältere Tätowierungen zu überdecken – und dabei handelt es sich zur Hälfte um
irgendwelche Namen. Herzensbrecher-Madsen war blond und blauäugig. Seine
gebrochene Nase und die Zahnlücke, die man sah, wenn er lächelte, verdankte er
einem verlorenen Faustkampf. Um einen Knöchel zog sich ein grüner Dornenzweig
mit kleinen roten Herzen – als hätte ein Rosenstrauch irrtümlich nicht Blüten,
sondern Herzen hervorgebracht. Um den anderen Knöchel schmiegte sich eine
schwarze Kette. Der Zweig wand sich durch die Buchstaben des Wortes Kirsten, und in den Kettengliedern stand Elise.
Die Tätowiermaschine vibrierte in der kleinen Hand des Jungen. Als
er sie ansetzte, drückte er wohl zu fest auf. Der Kunde sollte – jedenfalls,
wenn er nüchtern ist – nicht bluten, und Madsen hatte nichts Stärkeres als
Kaffee getrunken. Die Nadeln dringen nicht tiefer als 0,4 bis 1 Millimeter in
die Haut ein, so daß sie keine Blutgefäße verletzen. Bei dem armen Lars ging
Jack jedoch [34] offenbar tiefer. Der Herzensbrecher nahm es zwar sportlich, doch
da Tinte spritzte und überraschend viel Blut quoll, gab es eine Menge
wegzuwischen. Madsen blutete nicht nur – seine Haut glänzte auch von Vaseline.
Daß Lars sich nicht beklagte, lag nicht nur an Jacks Jugend. Lars
war bestimmt in Alice verliebt – möglicherweise versuchte er, ihr Herz zu
gewinnen, indem er Jack seine Knöchel opferte.
Alice war Anfang zwanzig, und Lars war achtzehn oder neunzehn, und
in diesem Lebensabschnitt bekommt beinahe jeder Altersunterschied zwangsläufig
eine große Bedeutung. Auch Madsens Gesichtsbehaarung verbesserte seine
Aussichten nicht gerade. Er trug mit gänzlich unangebrachtem Stolz ein äußerst
schütteres Ziegenbärtchen, das eher aussah, als hätte er vergessen, sich zu
rasieren.
Die Familie Madsen war im Fischgeschäft. (Verkaufen, nicht
tätowieren.) Herzensbrecher-Lars hatte jedoch absolut keine Lust, in die
Fußstapfen seines Vaters zu treten. Sein Talent als Tätowierer mochte begrenzt
sein, doch er fand in dieser Branche immerhin eine gewisse Distanz zu seiner
Familie und der Welt des Fischs. Jedesmal, wenn er sich die Haare wusch, spülte
er sie mit frischem Zitronensaft aus. Das Problem war nicht unähnlich dem, das
er mit Kirsten und Elise hatte, den verflossenen Freundinnen, die an seinen
Knöcheln prangten: Lars glaubte, er sei bis an die Haarwurzeln mit dem Geruch
des Familiengeschäfts durchtränkt.
Tatovør-Ole untersuchte Jacks Überdecker des Namenszugs Kirsten – das war der mit den Herzen und Dornen – und
verkündete, nicht einmal Herbert Hoffmann in Hamburg hätte es besser machen
können. (Trotz der Lobeshymne blutete Lars Madsen noch immer.)
Alice’ Methode, Buchstaben zu überdecken, bestand darin, diese in
Blätter oder Beeren umzuwandeln. Aus jedem Buchstaben,
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