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Bis in alle Ewigkeit

Bis in alle Ewigkeit

Titel: Bis in alle Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Daschkowa
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diese Leute anriefen. Einmal klingelte ein höflicher, aber ziemlich nervöser älterer Mann sehr lange an der Tür der Villa.
    »Sag ihm, er soll verschwinden, sonst rufen wir die Polizei.«
    »Was wollen die alle von Ihnen?«, fragte Gerda.
    »Sie glauben, mein Großvater sei ein Alchemist gewesen und hätte mir das Geheimnis eines Elixiers für das ewige Leben hinterlassen.«
    Gerda lachte amüsiert.
    »Da gibt es nichts zu lachen«, sagte Micki, »im Gegenteil, das ist traurig. Du liest doch Zeitungen und siehst fern. Da ist doch dauernd die Rede davon, dass es heute in Russland von Verrückten nur so wimmelt.«
    Am Tag von Dmitris Abreise zerschlug Micki seine Brille und seine Lieblingsteetasse. Beim Rasieren schnitt er sich heftig in Wange und Kinn, er zog den Pullover linksherum an und verschiedene Socken. Gerda bemerkte das, als er sich im Flur die Schuhe zuband, sagte aber nichts. Bei seinem Anblick hätte sie beinahe losgeheult.
    Als er weg war, ging sie hinauf in sein Zimmer, um dort aufzuräumen. Auf dem Schreibtisch stand ein neues Foto, das einzige Farbfoto neben den alten Schwarzweißaufnahmen. Es zeigte ein junges Mädchen von Mitte zwanzig mit kurzgeschnittenemblondem Haar. Gerda betrachtete das reine, schmale Gesicht lange.
    »Guten Tag, liebes Fräulein. Wer magst du sein? Ich kenne die Menschen, und ich sehe, du hast kluge Augen. Wahrscheinlich bist du ein guter Mensch, und ganz bestimmt bist du Micki lieb und teuer. Sonst würdest du nicht hier stehen, unter Glas und in einem schönen Rahmen.«
    Als Micki vom Bahnhof zurückkam, entschloss sie sich, ihn nach dem Foto zu fragen.
    »Wer ist das?«
    »Meine Enkelin«, antwortete Micki und ließ sich schwerfällig in einen Sessel fallen, »sie heißt Sofie. Sie wird bald dreißig. Sie lebt in Moskau. Dmitri ist ihr Vater. Mein Sohn.«
    Seitdem verkniff sich Gerda jedes Warum. Micki sah immer eifrig die Post durch, die im Briefkasten wie die elektronische im Computer.
    Er bekam viel Post. Neben den üblichen kostenlosen Zeitungen, Werbeblättern und Spams waren es Antwortschreiben auf seine Anfragen an Bibliotheken, Archive und Universitäten verschiedener Länder. Wenn Paketbenachrichtigungen kamen, brachte Gerda auf dem Gepäckständer ihres Fahrrades stapelweise Bücher auf Deutsch, Englisch und Russisch nach Hause.
    Micki hatte mehrere Lehrbücher zur Militärgeschichte geschrieben. Bevor er die Villa gekauft und sich endgültig hier niedergelassen hatte, hatte er in England, Belgien, der Schweiz und Frankreich gelebt und Vorlesungen an Universitäten gehalten. Noch immer wurde er per E-Mail um Konsultationen gebeten, manchmal besuchten ihn auch Journalisten.
    In den letzten fünf Jahren arbeitete er an einem Buch über die russische Revolution. Sein Tisch war mit Papieren übersät, er saß stundenlang am Computer. Wenn Gerda ihm über dieSchulter schaute, sah sie auf dem Bildschirm kyrillische Buchstaben. Sie wurden immer größer. Mickis Augen ließen nach.
    »Wen interessiert das schon?«, knurrte sie. »Sie könnten Ihre Augen und ihr Gehirn schonen und sich ausruhen, in Ihrem Alter.«
    »Ja, wahrscheinlich interessiert das niemanden«, antwortete Micki, »aber ausruhen kann ich mich im Grab. Und je weniger ich meine Augen und mein Gehirn schone, desto später werde ich dort landen.«
    Aber nach Dmitris Besuch ging er nur noch an den Computer, um seine Post abzurufen. Er schien nicht einmal mehr lesen zu können. Wenn er ein Buch zur Hand nahm, fuhr er zehn Minuten lang mit der Lupe über die Seiten, dann legte er es beiseite, ging spazieren oder saß stundenlang am Strand, schaute aufs Meer und lauschte den Möwen.
    Er war auf einmal vergesslich und zerstreut. Setzte keine Mütze auf, wenn es kalt war, verlor seine Brille und rasierte sich manchmal eine Woche lang nicht, bis Gerda ihn darauf aufmerksam machte.
    »Schämst du dich nicht, Fräulein?«, fragte Gerda das blonde Mädchen auf dem Foto. »Weißt du wirklich nichts, verstehst du nichts, fühlst du nichts? Wirst du wirklich nie herkommen?«
Moskau 1917
    In Moskau herrschte Krieg. Überall in der Stadt standen Barrikaden. Auf Straßen, Gassen und Höfen wurde geschossen, Fenster wurden von Kugeln und Granaten getroffen. Straßenlaternen zersplitterten, und hohe Gasfackeln flammten auf. Niemand löschte die Brände, die Feuer griffen auf Nachbargebäude über. Rotgardisten mit irren Augen stürmten in dieWohnungen, suchten nach Waffen und nahmen nebenbei alles mit, was ihnen gefiel.

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