Bis in alle Ewigkeit
Beim geringsten Widerstand oder einfach so, aus Jux, schossen sie jeden nieder.
Die Einwohner gründeten Hauskomitees, organisierten Tag-und-Nacht-Wachen in den Häusern, um ihren Wohnraum, ihr Eigentum und ihr Leben zu schützen, und schleppten Eimer und Schüsseln mit Wasser, um brennende Holzscheite zu löschen, die von benachbarten Brandstätten geflogen kamen.
Wenn die Schießerei verstummte, liefen betrunkene Marodeure über die Twerskaja, den Arbat und die Sretenka und rissen den Toten die Stiefel herunter. Dunkelheit, Kälte und Tod herrschten in Moskau. Niemand wusste, wann das enden und was morgen sein würde.
Eines späten Abends kam Ljubow Sharskaja angelaufen, in einem abgewetzten Schafpelz und einem grauen Bäuerinnentuch. Sie weinte und küsste Sweschnikow, Tanja und Andrej, erzählte, man habe ihre Wohnung geplündert, sie selbst habe sich nur durch ein Wunder retten können und wolle nun weg, nach Witebsk und von dort nach Warschau, dort habe sie einen Cousin.
»Warte noch, bleib eine Weile bei uns«, versuchte Sweschnikow sie zu überreden, »bald kommt alles wieder in Ordnung, zumindest werden die Schießereien aufhören.«
»Nein, Michail. Nichts kommt wieder in Ordnung. Wenn die Schießereien aufhören, heißt das, dass sie gesiegt haben. Dann werden sie die Grenzen schließen, und wir alle sind gefangen, dann wird Russland ein einziges riesiges Zwangslager. Ich will nicht warten, bis ich zur Schlachtbank geführt werde wie sprachloses Vieh. Sollen sie mich unterwegs töten, das wäre allemal besser.«
Der Anblick des neugeborenen Mischa löste einen erneuten Tränenausbruch aus.
»Mein Engel, du kleines Wunder, was soll aus dir werden in dieser Hölle?«
Die Kinderfrau Awdotja hatte etwas Proviant für sie zusammengepackt, Tanja gab ihr ein paar Kleider von sich. Sweschnikow wollte ihr ein wenig Geld in die Tasche stecken, aber das lehnte sie kategorisch ab.
»Ihr habt selbst wenig, außerdem ist dieses Papier bald sowieso nichts mehr wert. So Gott will, sehen wir uns wieder, wenn nicht in diesem Leben, dann später, irgendwann einmal.«
Agapkin brachte sie hinunter zur Haustür. Beim Abschied umarmte sie ihn und murmelte mit ihren ohne Lippenstift seltsam blassen Lippen: »Pass auf sie auf, Fjodor, sie haben außer dir niemanden mehr. Danilow, selbst wenn er dort im Kreml überlebt, wird weiter gegen diese rote Pest kämpfen, bis zum Tod. Als weißer Oberst ist er ein Todeskandidat.« Sie hielt sich erschrocken den Mund zu. »Mein Gott, was rede ich da, ich dummes Weib? Dass mir die Zunge verdorre! Weiß er wenigstens, dass er einen Sohn bekommen hat?«
Agapkin schüttelte wortlos den Kopf.
»Na schön, ich gehe, solange es ruhig ist. Vielleicht schaffe ich es zum Bahnhof. Irgendwann wird schon irgendein Zug fahren, und wenn nicht, gehe ich eben zu Fuß. Leb wohl, behüte dich Gott, Fjodor.«
Ljubow verschwand in der Dunkelheit. Erst jetzt, als Agapkin der langen, verschwommenen Gestalt mit dem hässlichen Tuch nachsah, bemerkte er, dass es tatsächlich ruhig war. Er hörte, wie der Wind mit den vereisten Blättern spielte, und wenn er die Augen schloss, konnte er denken, es sei alles wie früher. Eine ganz normale Moskauer Nacht Ende Oktober.
Er tastete nach den Papirossy in der Tasche und riss ein Streichholz an. Vielleicht war ja wirklich alles vorbei? Wenn bis zum Morgen nicht mehr geschossen wurde, musste er in dieNikitskaja gehen und mit dem Meister sprechen. Er wollte nicht weiter die Rolle einer blinden Marionette spielen. Der Meister sollte ihm erklären, was sie zu tun gedachten. Würden sie mit der roten Pest zusammenarbeiten? Oder sich vielleicht still und heimlich absetzen, bevor die Grenzen dichtgemacht wurden? Diese Variante war keineswegs ausgeschlossen.
Agapkin stellte sich das leere Haus vor, die fest verrammelte Tür. Im Unterschied zu vielen anderen Menschen in Moskau und in ganz Russland bezweifelte er in diesen schrecklichen Oktobertagen nicht, dass die Pest sich für lange hier festgesetzt hatte. Bei aller äußeren Absurdität dieser neuen Macht besaß sie Energie und sogar einen gewissen Reiz, eine dämonische Verführungskraft. Diese Leute sagten genau das, was die gepeinigten und verwilderten Massen hören wollten. Den Soldaten versprachen sie Frieden, den Arbeitern Brot, den Bauern Boden. Während alle anderen schwatzten, stritten und zweifelten, handelten sie – in dem absoluten, bedingungslosen Gefühl, im Recht zu sein. Sie fürchteten weder Blut
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