Bis in alle Ewigkeit
noch menschliches Gericht oder göttlichen Zorn.
Er hatte seine Papirossa noch nicht aufgeraucht, als vom Kreml her ein unheimliches Grollen und Donnern herübertönte. Das Trottoir bebte unter seinen Füßen.
Am 30. Oktober um Mitternacht eröffneten die Bolschewiki mit drei schweren Geschützen das Feuer auf den Kreml. Drei Tage dauerte der Beschuss der altehrwürdigen Mauern. Den Kremlzugang von der Erlöserkirche her verteidigte eine Maschinengewehrbesatzung unter dem Kommando eines Fahnenjunkers, der neunzehnjährigen Baronesse de Bode.
Die Fahnenjunker hielten mit letzter Kraft die Stellung und hatten nicht vor, sich zu ergeben. Die Bolschewiki waren bereit, den Kreml zu zerstören, um seine letzten Verteidiger zu vertreiben.
Die Spitze des Beklemischew-Turms fiel. Vom Nikolaus-Tor schaute das zerschossene Antlitz des Heiligen Nikolaus auf die Stadt.
Es gab erneut keinen Strom. In der eiskalten dunklen Wohnung klang das Telefonklingeln wie eine Explosion.
»Es geht wieder! Es geht wieder!«, schrie Andrej und rannte zum Apparat.
Draußen wurde es gerade hell. Tanja schlief in ihrem Zimmer so fest, dass sie weder das Klingeln noch Andrejs Aufschrei hörte. Der Säugling lag in seinem Bett, einem großen ovalen Korb, gewindelt mit einem abgeschnittenen Stück Laken, in ein warmes Tuch gehüllt und unter Andrejs alter Decke. Awdotja hatte ihm feierlich eine weiche rosa Wollmütze aufgesetzt. Die hatte sie noch vor seiner Geburt gestrickt – sie hatte geglaubt, es würde ein Mädchen.
Im Wohnzimmer rußte eine Petroleumlampe. Mit Kerzen gingen sie sparsam um, der Vorrat war fast aufgebraucht.
»Für dich habe ich seinerzeit auch eine rosa Mütze gestrickt, Michail. Deine Mutter, der Himmel sei ihr gnädig, der Guten, hat mit einem Mädchen gerechnet. Ihr Bauch war rund und breit, allen Anzeichen nach also ein Mädchen. Aber nein, das warst du. Und als sie mit Natascha ging, war es genau umgekehrt, der Bauch war spitz wie eine Birne, wir dachten, es wird ein Junge. Für Natascha habe ich eine hellblaue Mütze gestrickt«, murmelte die Kinderfrau, die auf der Sofakante saß und im Halbdunkel ihre löchrigen Schätze sortierte. »Siehst du, ich bewahre alles auf, hier ist deine Mütze, hier die von Wolodja.« Awdotja schluchzte auf und bekreuzigte sich. »Hier die von Tanja, die von Andrej. Aber die Motten haben sie zerfressen. Dabei habe ich sie bekämpft, die Verfluchten, mit Zitronenschalen und mit Lavendel. Schau mal, deine ersten Strümpfchen, und hier, Nataschas Kleidchen, ihr Strampler und ihre Schuhchen.«
Unter Awdotjas Gemurmel schlief der Professor ein, und im Schlaf lag ein glückliches, friedliches Lächeln auf seinem Gesicht.
Es fielen noch immer Schüsse, mal leiser, mal lauter, aber niemand zuckte mehr davon zusammen. Sie hatten sich daran gewöhnt.
»Fjodor Fjodorowitsch, es ist für Sie«, sagte Andrej enttäuscht und reichte ihm den Hörer.
»Wie geht es dem Professor?«, fragte eine vertraute Stimme.
»Danke. Es ist alles gut.«
»Rufen Sie an, wenn Sie etwas brauchen.«
»Es ist sehr kalt im Haus. Und der Strom ist wieder weg.«
»Ja«, sagte der Meister, »bei uns jetzt auch.«
»Bei Ihnen?«, fragte Agapkin erstaunt.
»Im ganzen Stadtzentrum. Hören Sie denn nicht, was los ist?«
»Und wann ist das alles vorbei?«, fragte Agapkin düster.
Eine ganze Weile hörte er nur ein Knacken im Hörer und spürte in seinem Ohr, an seiner Wange das missbilligende Schweigen seines Gesprächspartners.
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Meister schließlich, »nehmen Sie sich zusammen. Es stehen noch viele Prüfungen bevor, viel schlimmere als die jetzt. Die Straßenkämpfe werden nicht mehr lange dauern. Ich hoffe, Sie erinnern sich, was Ihre wichtigste Aufgabe ist?«
»Selbstverständlich.«
»Vergessen Sie die Tiere nicht. Schauen Sie regelmäßig nach ihnen. Auch sie müssen bewahrt werden. Das Telefon funktioniert einstweilen, wenn Sie etwas benötigen, lassen Sie es mich wissen.«
»Ja. Ich danke Ihnen.«
Ich habe ihm nicht gesagt, dass Tanja entbunden hat, dachteAgapkin plötzlich, ich habe es nicht gesagt, dabei hätte ich es tun müssen.
In diesem Augenblick hasste er Matwej Belkin beinahe, den Meister, seinen Lehrer und Wohltäter.
»Wer war das?«, fragte Andrej flüsternd, als Agapkin aufgelegt hatte.
»Ein Bekannter aus dem Lazarett. Warum siehst du mich so erschrocken an?«
»Ich weiß nicht. Sie machen so ein Gesicht …«
»Was für eins?« Agapkin drehte sich zum
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