Bis in alle Ewigkeit
am Strand sprach er laut, wie mit sich selbst. Aber im Unterschied zu den anderen nicht in ein Mobiltelefon oder in eine Freisprechanlage. Er hatte kein Telefon bei sich. Seine Sprache klang seltsam. DieMöwenschreie, Wind und Wellen übertönend, rezitierte der alte Herr laut und ausdrucksvoll russische Verse.
»Muss ich um die Erde jagen,
mal zu Fuß und mal zu Pferd,
mal im Schlitten, mal im Wagen,
ewig, ewig aufgestört?«
»O mein Gott, schon wieder«, knurrte eine hochgewachsene Deutsche um die fünfzig. »Fahren Sie doch in Ihr Russland. Was hindert Sie jetzt noch daran?«
Sie trat von hinten an den alten Herrn heran und stülpte ihm ungeniert eine Kinderskimütze mit Bommeln auf. Der Herr sah sie ärgerlich an und fragte auf Deutsch: »Wie spät ist es?«
»Halb fünf. Essenszeit für Sie.«
»Danke, Gerda. Ich esse hier am Strand, im Restaurant. Geh schon, deine Lieblingsserie fängt bald an.«
»Ich verstehe. Das ist sehr freundlich von Ihnen, Micki. Das Kalbfleisch, den Broccoli und den warmen Apfelstrudel mit Schlagsahne soll ich also an die Nachbarshunde verfüttern?«
»Wovon redest du?«
»Davon, was ich auf Ihren Wunsch für Sie zubereitet habe. Ich habe mir Mühe gegeben, habe das Kalbfleisch gekocht, Apfelstrudel gebacken, Sahne geschlagen, und das alles, damit Sie jetzt den überteuerten Touristendreck essen? Wenn Sie so viel Geld haben, dann spenden Sie es lieber den Armen. Wenn Sie auf ihren verdammten alten Magen pfeifen, verschwinden Sie doch nach Russland und ernähren sich von Kohlsuppe und Wodka.«
»Schon gut, sei mir nicht böse«, sagte der Greis, »komm, wir gehen.«
Der Greis nahm ihren Arm. »Du bist die beste Köchin in ganz Schleswig-Holstein, vielleicht sogar in ganz Deutschland. Bitte kündige nicht, ohne dich bin ich verloren.«
Von der kleinen Hauptstraße mit teuren Geschäften, Restaurants und Hotels bogen sie in eine Nebenstraße ab. Dort begannen die privaten Villen.
»Gerda, hast du heute schon nach der Post gesehen?«, fragte der Greis, als sie ins Haus gingen.
»Liegt alles in Ihrem Arbeitszimmer. Ein Haufen Mist, wie immer. Aber das, worauf Sie warten, ist nicht dabei, Sie müssen also nicht extra hochgehen. Waschen Sie sich die Hände, und dann schnell zu Tisch. Ein drittes Mal wärme ich das Essen nicht auf.«
Der Greis zog die Jacke aus, schob die Füße in warme Hausschuhe und ging hinauf in den ersten Stock, wobei er laut deklamierte:
»Nicht in den ererbten Wänden,
fern der Väter Gruft und Schloss,
in der Fremde werd ich enden,
das ist sicherlich mein Los.«
»O mein Gott, schon wieder«, knurrte Gerda, diesmal nicht ärgerlich, sondern traurig.
Sie verstand kein Wort Russisch, aber dieses Gedicht hätte sie wohl ohne Stocken auswendig zitieren können. Sie wusste, dass es von Puschkin war. Einem Dichter, der für die Russen das Gleiche bedeutete wie Goethe für die Deutschen und Shakespeare für die Engländer.
Seit fünfzehn Jahren war sie die Haushälterin dieses seltsamen einsamen Alten. Er hieß Michail Danilow. In einem Jahr wurde er neunzig. Er war kräftig, sehnig, schweigsam und nicht launisch. Gerda nannte ihn Micki.
Er war in Moskau geboren, am 25. Oktober 1917. Mit fünf Jahren hatte er Russland für immer verlassen, betrachtete sich aber noch immer als Russe. Er hatte in der SS gedient, war Luftwaffenpilot gewesen, woraus er keinen Hehl machte. In seinem Arbeitszimmer hing auf einem Ehrenplatz ein gerahmtes Foto. Er als blutjunger Mann in Leutnantsuniform, neben ihm ein schönes Fräulein, auf seinem Arm ein in eine Decke gewickelter Säugling.
Dass er bei der SS in Wahrheit englischer Spion gewesen war, hatte Gerda erfahren, als ihn ein Hamburger Fernsehteam besuchte. Sie interviewten ihn in seinem Arbeitszimmer, und er erzählte ihnen von einer raffinierten Spionageaktion 1944.
»Wie konnten Sie bei der SS sein, wenn Sie Russe waren?«, fragte Gerda.
»Ich war nicht Russe, ich bin Russe«, antwortete Micki. »Aber damals, 1938, habe ich das nicht publik gemacht. Ich hieß Ernst von Kraft. Seit meiner Kindheit habe ich akzentfrei deutsch gesprochen und fehlerfrei geschrieben.«
»Warum haben Sie für England spioniert und nicht für Russland? Haben Sie die Kommunisten und Stalin gehasst?«
»Stimmt, ich habe sie gehasst. Aber während des Krieges habe ich für Russland spioniert. Doch das ist streng geheim.« Micki zwinkerte ihr zu und legte den Finger auf die Lippen. »Das wirst du hoffentlich niemandem verraten,
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