Bis in alle Ewigkeit
Dort wurde die Totenmesse für die gefallenen Fahnenjunker abgehalten.
Der Platz in der Kirche reichte nicht für alle, die von den Verteidigern Moskaus Abschied nehmen wollten. Die Menschen standen draußen, strömten langsam aus den umliegenden Straßen zusammen, von den Patriarchenteichen, vom Twerskoi Boulevard, von der Spiridonowka. Der Wind heulte, nasser Schnee peitschte die Gesichter, wo er sich mit Tränen vermischte und schmolz.
Oberst Danilow war als einer der Ersten gekommen und mit der Menge in die Kirche hineingeschwemmt worden, weit weg von einigen Regimentskameraden, die ebenfalls hier waren. Um ihn herum standen fremde Menschen. Manche schluchzten leise, andere blickten mit starren, trockenen Augen vor sich hin. Das allgemeine Gefühl von Betäubung, von geistiger Lähmung erfasste auch Danilow. Er konnte nicht weinen, er konnte an nichts denken.
Er hörte weder den Chorgesang noch die Bibellesung und spürte weder Weihrauch- noch Blumenduft. In seinem Kopfhämmerte wie ein Maschinengewehr die hoffnungslose Frage: Warum? Armee, Gendarmen, Polizei – wo war das alles geblieben? Petrograd hatte sich kampflos ergeben. Moskau hatte Widerstand geleistet. Und was war das Ergebnis? Reihenweise Särge, darin blutjunge Tote, fast noch Kinder, rauchende Trümmer, beschädigte Kremlmauern, die Mariä-Entschlafens-Kathedrale, das Wunderkloster und die Basiliuskathedrale zerstört. Die Uhr des Erlöserturms zerschossen und verstummt. Irgendwann würde sie repariert werden, aber dann würde sie eine andere Zeit messen.
Die Totenmesse war vorbei. Der Oberst gesellte sich zu drei Männern, die einen Sarg auf ihre Schultern hoben, und zog mit der großen Prozession durch ganz Moskau, zum Allerheiligen-Friedhof. Ein langer Weg. Hin und wieder vernahm er gedämpfte Unterhaltungen.
»Dieser Schrecken wird bald ein Ende haben, sehr bald.«
»Sie werden sich gegenseitig die Kehle durchbeißen, jawohl! Ein Dutzend Minister ist schon aus ihrem ZK ausgeschieden.«
»Keiner traut ihnen, keiner will sie. Sie haben sich selber satt. Sie haben Frieden versprochen und so viel Blut vergossen, sie haben Brot versprochen, und Russland steht am Rande einer Hungersnot.«
»In einer Woche wird es einen neuen Umsturz geben, eine neue Regierung.«
»Was denn für eine?«
»Eine konstituierende Versammlung!«
»Dafür braucht es keinen Umsturz, die ist doch schon legal gewählt worden.«
»Ich bitte Sie, was gibt es denn jetzt noch für Gesetze außer deren barbarischen Dekreten? In Petrograd werden schon Fahnenjunker erschossen. Sie haben angefangen, Priester zu verhaften, weil sie die Totenmesse für Getötete gelesen haben. Esheißt, sie sollen auch erschossen werden. Einige Fälle hat es schon gegeben.«
»Wo ist eigentlich Kerenski geblieben?«
»Abgehauen. Hat jede Menge Unheil angerichtet und sich verdrückt.«
»Nicht mal die Deutschen wollen mit denen Friedensverhandlungen führen.«
»Ach, die Deutschen haben doch erst dafür gesorgt, dass sich diese Bolschewiki bei uns vermehrt haben wie die Pestratten.«
Von Zeit zu Zeit machte die Prozession vor einer offenen Kirche halt, und erneut wurde für die Toten gebetet. Erst gegen Abend erreichte sie den Friedhof.
Danilow hatte noch nie so viele Mütter und Väter an einem Ort zusammen ihre Kinder begraben sehen. Dutzende, Hunderte. Erdklumpen fielen auf Sargdeckel, Mütter und junge Ehefrauen sprangen in Gräber, es wurde so heftig geweint, dass es ihm das Herz zerriss.
Er konnte es nicht mehr ertragen und ging.
Was nun weiter? Viele Familien flohen aus Moskau und Piter auf die Krim. Dort war es noch ruhig. Sweschnikows Schwester Natascha hatte sie in ihrem letzten Brief inständig gebeten, zu ihr nach Jalta zu kommen. Aber der Professor war strikt dagegen.
»Ich verschwinde nicht freiwillig aus meinem Haus. Zu Besuch gern, mit Freuden. Ich habe Sehnsucht nach Natascha und nach Ossja. Aber weglaufen – weshalb? Und wie auch, mit meinen Krücken? Ich bin hier geboren, hier werde ich auch sterben.«
In der ungeheizten dunklen Wohnung in der Zweiten Twerskaja hatten sie fast die gesamte letzte Nacht gestritten. Danilow fand, dass sie gehen mussten. Tanja und Andrej stimmten ihm zu. Aber der Professor hatte immer wieder gesagt: Fahrtihr vier, mit Mischa. Ich bleibe hier, mit Awdotja und mit Fjodor. Wenn das Bein ausgeheilt ist, werde ich wieder im Lazarett arbeiten. Außerdem habe ich hier mein Labor. Wie soll ich alle meine Gläser und Fläschchen und meine
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