Bis ins Koma
fünf und das drückt automatisch die Note. Dieses Mal soll es besser werden. Das ist sein fester Vorsatz.
Er schließt die Haustür auf, schaut in den Briefkasten und nimmt die Rechnungen und die Flyer mit den Billigangeboten mit nach oben. Auf der obersten Treppenstufe zwischen dem ersten und dem zweiten Stock sitzt Miranda. Miranda Hernandez, mittlerweile vierzehn Jahre, die ihn anhimmelt, seit er ihr das erste Mal über den Weg gelaufen ist. Es gibt niemanden auf dieser Welt - außer vielleicht seine Mutter -, die sich jedes Mal so freut, wenn sie ihn sieht. Nein, stimmt gar nicht, seine Mutter freut sich nicht jedes Mal so. Sie strahlt ihn nicht jedes Mal so an. Nicht wenn er nachts zu spät nach Hause kommt oder wenn er vergessen hat, ihr vom Krankenhaus was auszurichten oder ihr Luft ins Fahrrad zu pumpen, oder wenn sein Zimmer
so zugemüllt ist, dass sie die Tür nicht aufkriegt. Sie strahlt auch nicht, wenn er samstags muffig und verpennt am Frühstückstisch auftaucht, wo sie schon auf dem Markt Blumen und beim Bäcker frische Croissants geholt hat. Einmal hat er sogar ihren Geburtstag verpennt. Dabei hatte er sich echt vorgenommen, den Frühstückstisch zu decken, mit allem Schnickschnack, den seine Mutter so liebt. Hat leider nicht geklappt. Er hätte sich ins Knie schießen können vor Wut. Marvel hat seine Mutter schon oft enttäuscht, aber Miranda würde ihn selbst dann noch anstrahlen. So wie jetzt. Irgendwie machte der Gedanke Marvel fertig.
Sie sitzt auf der Treppe, als säße sie da schon lange. Sie sitzt da, als habe sie nicht vor, aufzustehen und hoch in ihre Wohnung zu gehen. Miranda hat den Kopf gegen das Geländer gelehnt und lächelt ihn an. Ihre Augen glänzen. Auf ihrem Schoß hält sie einen Stapel Zeitschriften. Offenbar hat sie sich auf eine längere Wartezeit eingerichtet.
»Hallo Marvel!« Sie strahlt ihn an. »Du bist heute ja pünktlich wie die Maurer.«
Immer hat sie einen fröhlichen Satz drauf, wenn sie mit ihm spricht. Ähnlich wie die Typen in den amerikanischen Sitcoms. Eine Weile hat Marvel diese Sitcoms geguckt bis zum Abwinken, aber aus dem Alter ist er raus.
Dieses Aufgekratzte, Übertriebene, das hat Miranda nur für ihn reserviert. Damit von ihrer guten Laune etwas auf ihn überspringt wahrscheinlich. Aber das klappt nicht. Das müsste sie doch allmählich mal begreifen. Das Leben ist kein Ponyhof.
»Schlüssel vergessen?«, fragt Marvel.
Miranda schüttelt lächelnd den Kopf. »Ich hatte keinen Bock, oben allein in der Wohnung zu sitzen«, erklärt sie. »Sind alle weg, ist total langweilig. Da passiert nichts.«
»Und hier auf der Treppe«, fragt Marvel, »passiert hier was?«
»Na ja.« Miranda lächelt wieder dieses zuckersüße Lächeln, das er nicht ausstehen kann, weil sie sich damit irgendwie jünger macht, als sie eigentlich ist. »Du bist da.« So was entwaffnet ihn trotz allem. Welcher fünfzehnjährige Junge wird schon so hemmungslos angeschwärmt? Das ist echt peinlich.
Marvel geht an ihr vorbei, steigt die Treppe weiter hoch.
Miranda steht auf, schüttelt ihren bauschigen Rock. »Wenn deine Mutter nicht da ist und du nichts zu essen hast, könnte ich uns Spaghetti machen«, sagt sie schüchtern.
So ist Miranda. Seit Marvel mit seiner Mutter in dieses Mietshaus gezogen ist, verfolgt Miranda ihn mit ihren guten Absichten und ihren Hilfsangeboten. Marvel fürchtet, dass Miranda sich gleich am ersten Tag, als sie auf der Treppe mit ihm zusammengestoßen ist, in ihn verliebt hat. Er hat damals einen Umzugskarton auf der Schulter nach oben getragen, wie ein gelernter Spediteur. Er hatte ein weißes T-Shirt und Jeans an, das T-Shirt war dreckig, die Jeans auch, und er war super gestresst, weil er gerade sein Elternhaus verloren hatte und wegen der Sachen, die sein Vater am Abend vorher zu ihm gesagt hatte. Sätze wie: »Das hat nichts mit dir zu tun, Marvin, wenn deine Mutter und ich uns jetzt trennen.«
»Ich werde immer für dich da sein.«
»Zwischen uns ändert sich nichts.«
Dabei wusste er genauso gut wie Marvel, dass sich zwischen ihnen längst alles geändert hatte.
»Ich bin immer für dich da. Du kannst mich jederzeit in der Redaktion besuchen.«
Aha. Zu Hause wohl eher nicht. Denn da würde ja jetzt die andere einziehen. Die Frau, die aussah, als würde sie gleich platzen, weil sie so einen dicken Bauch hatte.
Marvel war zwölf und die Probleme wuchsen ihm über den Kopf und die Umzugskiste, die er die Treppen hochschleppte,
war
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