Bis ins Koma
worden.
Marvel hat das zuerst für einen Witz gehalten, den ein paar dämliche Typen sich mit ihm machen wollten, und nur deshalb hat er den Brief aufbewahrt, um ihn diesen Leuten irgendwann um die Ohren zu hauen. Denn zu der Zeit war ihm ganz und gar nicht nach Witzen zumute.
Seine Mutter hatte jeden Morgen verheulte Augen, und wenn sie mit seinem Vater am Telefon redete, begann schon nach drei Sekunden das Gekeife und Geschreie. Er schloss sich dann in seinem Zimmer ein, aber Zimmertüren sind nicht schalldicht. Als seine Mutter einmal - er hat bis heute keine Ahnung, warum sie das gemacht hat - in ihr ehemaliges Haus fuhr, waren die Türschlösser ausgetauscht. Da begriff sie wohl erst, dass die Trennung endgültig war, und bekam einen richtigen Nervenzusammenbruch.
Wen interessieren in solchen Zeiten anonyme Liebesbriefe?
Marvel hatte andere Sorgen.
Als Mirandas Eltern ihn und seine Mutter zu einem kleinen Willkommenskaffee zu sich einluden und Miranda Marvel ihr Zimmer und ihren Computer zeigte, da erwähnte er zum ersten Mal den Liebesbrief. Ja, er zitierte aus dem Kopf ganze Passagen: Ich weiß jetzt schon, dass ich in meinem ganzen Leben nie einen anderen Jungen lieben werde …! Vielleicht weil er dachte, Mädchen finden so was lustig, oder weil ihm sonst nichts einfiel, was er erzählen konnte. Ihm war dann durchaus aufgefallen, dass Miranda danach ungewöhnlich still war. So still und irgendwie gar nicht mehr vorhanden, dass es schon fast mysteriös war. Er konnte sich später nicht einmal erinnern, ob sie überhaupt noch da war, als er und seine Mutter sich endlich verabschiedeten und er sich an seinen Computer zurückziehen konnte.
Jedenfalls war Miranda ihm wieder ein paar Monate aus dem Weg gegangen, es gab nicht mehr diese »zufälligen« Treffen im Treppenhaus, von denen Marvel schon geahnt hatte, dass sie nicht wirklich zufällig gewesen waren. Sie forderte ihn nicht mehr zum Scrabble-Match auf, worüber er anfangs froh gewesen war. Er hatte nicht ungern Scrabble mit ihr gespielt, aber es ging ihm auf die Nerven, dass sie immer gewann. Es ist schließlich nicht leicht, auch nach der achten Niederlage noch ein cooler Typ zu bleiben.
Aber Miranda wollte auch nichts mehr von seiner Mutter, sie klingelte nicht mehr wie früher alle paar Tage, um sich eine Tasse Mehl, ein Ei oder ein Päckchen Vanillezucker auszuborgen. Sie klingelte überhaupt nie mehr an Marvels Wohnungstür. Einmal sah er sie, wie sie vor ihm die Schlüterstraße entlangging, wobei sie zwei prall gefüllte Supermarkttüten schleppte. Er wollte ihr tragen helfen und rief ihren Namen. Als sie sich umdrehte und ihn erkannte, wurde sie feuerrot und begann zu
laufen. Sie erreichte das Haus ein paar Sekunden vor ihm und die Haustür schlug vor seiner Nase zu.
Blöde Kuh, hatte er gedacht.
Dann kam die Hausparty. In dem Haus, in das er und seine Mutter eingezogen waren, feierte man Treppenhausfeste. Das war eine Tradition, an der alle Mieter hingen. Alle Wohnungstüren standen dann offen, das Treppenhaus wurde geschmückt, Boxen auf den Treppenabsätzen aufgebaut und in jeder Küche wartete irgendeine Leckerei. Seine Mutter machte etwas Marokkanisches: einen Couscous-Salat mit Rosinen und Lammfiletstückchen. Seine Eltern hatten ihre Flitterwochen in Marokko gefeiert - und übrig geblieben von der ganzen Liebe war dieses Rezept.
Bei den Hernandez gab es spanische Tapas: in Speck eingewickelte Datteln und Scampispieße.
Da Miranda und er zu der Zeit die einzigen Jugendlichen im Haus waren, hielten alle es für logisch, dass die beiden zusammen für die Musik sorgen sollten. Die Alten wollten sich auch mal wieder jung fühlen. Aber keinen Hardrock, hatte Mirandas Vater gesagt, lieber was Softes. Ein bisschen was fürs Herz, ja?
Eine ganze Woche trafen sie sich jeden Nachmittag, um zusammen Musik zu hören. Natürlich hatte Miranda einen völlig abartigen Geschmack, Kuschelrock und Robbie Williams, und er musste sich unheimlich zusammennehmen, um ihr nicht zu sagen, wie peinlich sie war. Jeden Nachmittag rochen ihre Haare wie frisch gewaschen und sie hatte irgendetwas gebacken, wovon sie dachte, es würde ihm schmecken. Oder Tee gekocht. Und in ihrem Zimmer brannten Kerzen, mitten im Mai. Er fand das albern, aber er sagte nichts.
»Miranda strahlt ja in letzter Zeit immer so«, meinte seine Mutter damals und schaute ihn irgendwie anzüglich an. »Was wohl mit ihr los ist?«
Da dämmerte es Marvel, dass nur Miranda den Liebesbrief
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