Bis ins Koma
verdammt schwer. Aber da war dieses Mädchen, das wie vom Donner gerührt stehen blieb und ihn anstarrte und offenbar unfähig war, zur Seite zu treten, um ihn mit dieser verdammt schweren Umzugskiste vorbeizulassen. In dem Karton waren die Kochtöpfe gewesen. Seine Mutter hatte nur einen Wasserkocher und einen Kartoffelkochtopf zurückgelassen. »Dein Vater kann sowieso nicht kochen«, hatte sie gesagt.
Alles war grauenvoll. Aber Miranda stand da und lächelte wie ein Engel. Ein Engel mit schwarzen Locken und riesigen schwarzen Augen.
»Hallo«, hauchte sie. »Ich bin Miranda.« Er wollte mit einem kurzen Knurren an ihr vorbei, aber sie hielt ihn fest. »Ziehst du hier ein?«
»Wie sieht’s denn für dich aus?«, knurrte Marvel.
Sie kicherte und streckte ihm die Arme entgegen. »Ich kann dir helfen.«
Ohne ein Wort nahm Marvel den Karton von den Schultern und legte ihn ihr in die ausgestreckten Arme.
Ihre Arme fielen runter, als habe er sie mit der Axt abgeschlagen, der Karton polterte die Treppen hinunter, die Kopftöpfe kullerten heraus, die Deckel schepperten auf den Treppenstufen und Mirandas Augen wurden vor Schreck so groß wie Untertassen.
»Ent… entschuldige … bitte!«, stammelte sie.
Marvel sagte nichts. Er ließ Miranda die Treppe runterrennen und die Sachen zusammensammeln. Er stieg einfach weiter nach oben, ging in die leere Wohnung und ließ sich an der Wand entlang zu Boden gleiten. An der weißen Wand eines leeren Zimmers mit einem Doppelfenster und einer Tür zum Flur. Holzfußboden. Fußleiste. Mehr war da nicht. Aber irgendwann würden seine Sachen da reinkommen, er würde seine Poster aufhängen und die Musikanlage aufstellen und sein Bett, seinen
Schreibtisch, seinen Stuhl und seinen Schrank. Und noch später irgendwann würde er sich vielleicht daran gewöhnen, dass sein Zimmer keine schnuckelige Mansarde unter dem Dach mehr war, dass sein Vater ihm aus der Redaktion nicht mehr die neuesten Computerzeitschriften mitbringen und ihm nicht mehr die Salami von der Pizza stibitzen würde und dass verdammt noch mal nichts mehr so war, wie es ein sollte.
Aber an diesem Tag war Miranda da. Sie stand plötzlich wieder vor ihm, lächelte und sagte: »Es tut mir leid.«
Er schloss die Augen. »Was tut dir leid?«
»Ich weiß nicht. Du siehst irgendwie traurig aus.«
Das war der Moment gewesen, wo er wusste, dass er die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Deshalb hatte er sie einfach laufen lassen und geschrien: »Weiß du, warum ich traurig aussehe? Weil Typen wie du mir auf den Geist gehen!«
Sie verschwand wie eine Katze. Huschte lautlos aus dem Zimmer und ließ sich tagelang, nachdem sie eingezogen und alle Sachen eingeräumt hatten, nicht mehr blicken.
Aber er wusste, dass sie da war. Oben in der Wohnung im dritten Stock. Dass sie sich schämte. Aber was sie nicht wissen konnte: dass er sich genauso schämte. Er war fies gewesen und das war nicht seine Art, weil er sonst immer nett war. Er war zu allen Leuten nett. Man konnte fragen, wen man wollte. Er hatte nicht vorgehabt, Miranda zu beleidigen.
Miranda war ein Jahr jünger, sie war elf, und Marvel hatte keine Ahnung gehabt, wie zart und verletzlich die Seele eines elfjährigen Mädchens sein kann. Er hatte zu der Zeit überhaupt noch keine Ahnung von Mädchen. Er hatte keine Schwester, nicht einmal eine Cousine. Er wusste eigentlich so gut wie nichts über Mädchen - und wie man es anstellen sollte, bei ihnen zu landen.
Das war vor drei Jahren. Seitdem ist viel passiert.
Zum Beispiel hat Miranda ihm einen Liebesbrief geschrieben, anonym.
Du wirst nie erraten, von wem dieser Brief ist. Nie, nie! Ich weiß, ich sollte lieber schweigen und dir nicht verraten, dass du für mich viel mehr zählst als irgendwelche tollen Kinotypen oder Fußballer oder sonst was. An dir ist einfach alles toll! Ich wünsche mir, dass du irgendwann mal genauso in mich verknallt bist wie ich jetzt schon in dich. Vielleicht dauert das noch Wochen oder Monate. Keine Ahnung, vielleicht passiert es auch nie. Das wäre furchtbar!! Dann wäre ich das unglücklichste Mädchen der Welt!!! Denn ich weiß jetzt schon, dass ich in meinem ganzen Leben nie einen anderen Jungen lieben werde! Du bist so süüüüß!
Dieser Brief war mit der Post gekommen. Auf der Briefmarke war ein roter Leuchtturm gewesen und sein Name war falsch geschrieben: Marven Keller. Der Brief war nicht mit der Hand, sondern auf dem Computer geschrieben und dann ausgedruckt
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