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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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am Schmerz ausmessen. So etwas hat er noch nie erlebt. Und der Gestank! Wenn er sich herumwälzt und seine Nase in das Kopfkissen steckt, würgt es ihn sofort.
    Autos fahren über seinen Kopf. Keine netten Kleinwagen, mit denen Muttis morgens einkaufen fahren. Das sind Panzerspähwagen mit Kettenrädern. Sie walzen über seinen Kopf und quetschen seinen Schädel zu Brei. Er stöhnt, und wenn er stöhnt, muss er husten, und wenn der Husten ihn würgt, hat er Sekunden später bittere Galle auf der Zunge.
    Als er irgendwann ziemlich sicher ist, dass dies nicht die Hölle, sondern sein Zimmer ist - ohne dass er bislang irgendeine Erinnerung an die vergangene Nacht hat -, rollt er sich aus dem Bett. Er klatscht auf den Holzfußboden wie ein Sack. Und bleibt erst mal liegen. Der Holzboden ist angenehm kühl und glatt.
    Hier bleib ich liegen, denkt er glücklich und pennt sofort ein.
    Irgendwann wacht er wieder auf, weil sein Handy klingelt. Er hebt den Kopf, blinzelt.
    Wo, verdammt, kann in diesem Zimmer sein Handy sein?
    Er hat nicht die geringste Ahnung. Ihm wird plötzlich klar, dass er das Zimmer im Grunde gar nicht kennt. Alles wirkt anders und chaotisch, ein Fremder muss hier gehaust haben. Er
lässt seinen Kopf wieder auf den Boden zurückfallen. Wieder dieser dumpfe Schmerz.
    Das Handy klingelt so lange, bis sich die Mailbox einschaltet.
    Ruhe!
    Er liegt auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet, und wartet auf ein Wunder.
    Dass die Autos einen anderen Weg nehmen als über seinen Kopf.
    Dass das Brennen in den Augen aufhört.
    Dass seine Hände nicht so eklig nach Erbrochenem riechen.
    Wie kommt fremde Kotze an meine Hände?, denkt er. Aber er fühlt sich außerstande, den Gedanken zu Ende zu führen.
    Das andere Telefon beginnt zu läuten. Der Festnetzanschluss. Der ist im Flur. Marvel fällt plötzlich ein, dass er nicht allein auf der Welt ist. Er hat eine Mutter. Seine Mutter hat Nachtdienst - und kommt vielleicht gleich nach Hause! Wie spät ist es eigentlich???
    Jetzt ruft sie ihn wahrscheinlich an, um ihn aus dem Bett zu jagen oder weil ihr irgendwas eingefallen ist, was er noch besorgen soll. Oder muss er zur Schule?
    Was für ein Tag, verdammt noch mal, ist eigentlich???
    Es wäre schon besser, wenn er es bis zum Telefon schafft, sonst macht sie sich nur Sorgen. Sie soll sich in der Illusion wiegen, dass zu Hause alles in Ordnung ist. Ihr Sohn watet gerade durch Dantes Inferno, aber sonst alles easy.
    Marvel kriecht auf allen vieren in den Flur. Er versucht sich an der Wand hochzustemmen, aber die Knie sacken ihm weg. Scheiße, denkt er, wieso will ich überhaupt an den Apparat? Kann ich denn sprechen?
    Ein Albtraum: Er öffnet den Mund und versucht sich zu räuspern. Statt eines Tons lodert nur ein Feuer in seinem Hals.
    Da erlöst ihn der Anrufbeantworter.

    Er bleibt in der Hocke, den Kopf auf den Knien, und hört, wie eine weibliche Stimme - ganz fröhlich, ganz ausgeschlafen und nüchtern - flötet:
    »Hallo? Guten Morgen. Dies ist ein Anruf für Marvin Keller. Von der Multimedia. Lieber Marvin, hier ist Anette. Schöne Grüße von Biggi: Wir haben grandiose Neuigkeiten! Die Quote gestern Abend lag bei neunundzwanzig Prozent in der werberelevanten Zielgruppe von vierzehn bis neunundvierzig Jahre! Das ist mehr, als wir uns erträumt haben. Schade, dass du nicht da bist. Ich würde dich gern zu Biggi durchstellen …«
    Marvel schnappt nach Luft. Er stemmt sich wieder an der Wand hoch, er gibt alles, er beißt sich auf die Lippen, bis sie bluten, aber er schafft es.
    Biggi will ihn sprechen! Die Regisseurin!
    Was hat die Tussi gesagt? 29 Prozent? Zielgruppe?
    Er schüttelt sich, seine Halswirbel knacken. Wo, bitte schön, kann man einen neuen Kopf bestellen? Einen klaren Kopf, den man zum Denken benutzen kann, zum Sprechen vielleicht auch.
    »Marvin, melde dich doch, wenn du wieder zu Hause bist! Heute Abend steigt eine Party! Biggi würde sich freuen, wenn du dabei bist.«
    Biggi würde sich freuen, wenn du dabei bist!
    Er ist fast am Telefon. Mit einem Hechtsprung wirft er sich in die Richtung und grapscht mit ausgestreckter Hand nach dem Hörer. Leider daneben.
    Es knackt in der Leitung. Das Gespräch ist beendet.
    Er möchte sich am liebsten mit dem Telefon im Arm wieder schön im Flur ausstrecken und sich wegträumen, aber sein Magen will das nicht. Sein Magen ist durch die körperliche Anstrengung in Wallung geraten und das, was noch drin ist, will jetzt raus.

    Marvel stürzt ins Bad

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